Brenda Joyce
sollte sie vorsichtiger sein, um Bragg nicht
auf die Zehen zu treten. Doch im selben Moment hörte sie sich bereits fragen:
»Um welche Zeit ist Jonny wohl entführt worden?«
Sie spürte, dass Braggs Wut dem Siedepunkt nahe war und fügte
daher eilig hinzu: »Hören Sie, ich kenne die beiden so gut! Ich kenne sie, seit
die Burtons vor zwei Jahren hier eingezogen sind.«
Für einen Moment herrschte Stille. Dann sagte Burton gequält:
»Wir wissen es nicht. Als wir uns auf den Weg zum Ball machten, war Jonny schon
im Bett, und als wir um kurz vor eins zurückkehrten, war er verschwunden.«
Francesca sah den Sechsjährigen
in Gedanken vor sich, seine großen braunen Augen, sein rundes, lächelndes
Gesicht und seinen braunen Haarschopf. Im vergangenen Jahr hatte Jonny ihr zum Geburtstag einen Strauß Rosen
geschenkt, die er kurzerhand im Garten seiner Mutter abgeschnitten hatte.
Was für eine sinnlose, schreckliche Tragödie diese Entführung
doch ist, dachte sie. Plötzlich kam ihr ein erstaunlicher Gedanke. »Bragg!«
Der Polizeipräsident blickte
sie fragend an. »Miss Cahill?«
»Ich glaube, dass es zwei Täter
gibt, nicht nur einen«, sagte sie atemlos.
Er öffnete den Mund, um etwas zu antworten,
doch sie redete einfach weiter. »Die Nachricht wurde auf Vaters Schreibtisch
hinterlassen, in unserem Haus, was überhaupt keinen Sinn ergibt. Jemand muss
sie während des Balls dort hingelegt haben, das heißt, als die Burtons noch
anwesend waren. Was bedeutet, dass jemand die Nachricht hinterlassen hat,
während eine andere Person Jonny entführte.«
Bragg starrte Francesca durchdringend an, wodurch seine Augen
buchstäblich schwarz wirkten.
»Sehr gut abgeleitet, Fran«, sagte Evan
bewundernd. »Aber warum zum Teufel wurde die Nachricht in unserem Haus hinterlegt
und nicht hier? Es wäre doch das Einfachste gewesen, den Brief einfach auf Jonnys
Bett zu legen.«
Das war ein gutes Argument, auf das Francesca keine Antwort
wusste.
In diesem Moment sagte Bragg zu Murphy: »Bitte
begleiten Sie Miss Cahill nach Hause.« An Francesca gewandt fuhr er fort: »Es
sei denn, wir haben es mit einem ausgesprochen dreisten Verbrecher zu tun, Miss
Cahill. In diesem Fall könnte er das Kind entführt und irgendwo versteckt
haben, um anschließend den Ball im Haus Ihrer Eltern zu besuchen. Oder die
Nachricht ist am Freitag irgendwie in Ihre Post gelangt«, fügte er hinzu.
Dann wandte sich Bragg ihrem Vater und ihrem
Bruder zu. »Andrew, Evan, ich fürchte, ich muss Sie ebenfalls bitten zu gehen,
da ein großer Berg Arbeit auf mich wartet. Außerdem möchte ich mich noch allein
mit den Burtons unterhalten.«
»Das verstehen wir«, erwiderte Cahill, trat
auf Bragg zu und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Viel Glück,
Rick. Wenn jemand diesen Fall lösen kann, dann Sie!«
Bragg nickte ernst. Francesca verspürte
plötzlich Mitleid mit ihm. Bragg war – wenn man diesen Tag mitrechnete – erst
seit achtzehn Tagen Polizeipräsident und bereits mit einem Kriminalfall
konfrontiert, der bis zu seiner Aufklärung die Aufmerksamkeit der Presse auf
sich ziehen würde. Dabei hatte er gewiss noch nicht ausreichend Gelegenheit
gehabt, die Männer kennen zu lernen, die er befehligte. Und war er überhaupt
vertraut mit Ermittlungsarbeit?
Er erwischte Francesca dabei, wie sie ihn
anstarrte und sagte: »Miss Cahill, ich darf Sie bitten, heute nicht mehr auszugehen.
Ich werde Sie ebenfalls befragen, sobald ich mit meiner Arbeit hier fertig
bin.«
Francesca
blinzelte verwirrt. Warum wollte er sie abermals befragen? Das hatte er
doch erst vor wenigen Augenblicken getan. Eine eigenartige Unruhe stieg in ihr
auf, denn schließlich hatte sie keinen größeren Wunsch, als Bragg bei der
Aufklärung dieses scheußlichen Verbrechens zu helfen. »Sehr wohl«, sagte sie
mit ernster Stimme und änderte sogleich ihre ursprüngliche Absicht, die
öffentliche Bibliothek aufzusuchen.
Begleitet von zwei Polizisten ging sie mit
ihrem Vater und Evan nach Hause. Kurze Zeit später traf ein halbes Dutzend
uniformierter Beamter ein, die die Villa der Cahills bewachten.
Julia war aus ihrem Schlafzimmer heruntergekommen und unterhielt sich
jetzt im Salon mit ihrem Mann und Evan über die schreckliche Entführung.
Francesca ging in die Bibliothek ihres
Vaters. An der Tür blieb sie stehen und starrte auf den großen Schreibtisch, wo
sie am Abend zuvor die eigenartige Nachricht gefunden hatte. A steht für Ameisen. Was mochte das nur zu bedeuten
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