Brenda Joyce
selbst in
ihrer Verkleidung kam sie sich auffallend anders vor.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand Bragg in seinem
Anzug, der Melone und dem langen, braunen Mantel
und machte nicht einmal den Versuch, sich unauffällig unter die Menge zu
mischen. Die Passanten machten einen großen Bogen um ihn und bedachten ihn mit
argwöhnischen Blicken. Francesca war klar, dass sie ihm schon von weitem
ansahen, dass er Polizist war.
Bragg war offenbar nervös, denn er marschierte auf kleinstem Raum
ständig auf und ab und sah sich dabei ständig um.
Immer wieder schaute er geradewegs in Francescas Richtung, worauf sie sich
jedes Mal unwillkürlich duckte, obwohl er sie in ihrer Verkleidung unmöglich
erkennen konnte.
Doch wo war der Verfasser jener eigenartigen Nachricht, der für
Jonny Burtons Entführung verantwortlich war?
Obwohl sie keine Uhr trug, war sich Francesca
sicher, dass es mindestens zehn Minuten nach eins sein musste, da sie bereits
seit ungefähr zwanzig Minuten wartete. Sie sah, dass Bragg seine Taschenuhr
hervorzog und sie erst auf- und dann wieder zuschnappen ließ, nachdem er einen
Blick auf das Zifferblatt geworfen hatte. Dann begann er erneut mit grimmigem Gesichtsausdruck auf und ab zu marschieren.
Plötzlich wurde Francesca bewusst, dass ihr nicht nur kalt war, sondern dass
sie auch dringend ein gewisses Örtchen aufsuchen musste. Sie fluchte innerlich
und beschloss, das zunehmende Unbehagen einfach zu ignorieren.
»Ma'am, könnten Sie wohl 'n Fünfcentstück oder zwei entbehren?
Oder vielleicht sogar 'nen halben Dollar?«, ertönte plötzlich eine Stimme neben
ihr.
Francesca zuckte zusammen. Ein schwarzhaariger Junge mit einem
verhärmten, bleichen Gesicht grinste sie an. Seine Nasenspitze und die Wangen waren rußgeschwärzt. »Bitte, Ma'am! Meine
Mutter is krank und wir ham nix zu essen.«
Unwillkürlich zog Francesca Betsys Umhang enger um sich. »Tut mir
Leid, aber ich kann im Moment nicht an meine Geldbörse«, erwiderte sie
wahrheitsgemäß. Wenn Bragg sie gesehen hätte, wäre sie sofort entlarvt gewesen.
Der Junge blickte sie mit großen Augen an. »Ich dachte mir schon,
dass Sie 'ne Reiche sind. Sie sind 'ne Dame, stimmt's? Was machen Sie hier? Und
warum ham Sie 'n Kissen unter Ihrem Mantel?«
Francesca
errötete und fauchte: »Hau ab!«
Er trat näher auf sie zu und starrte ihr ins Gesicht, das von der
Kapuze halb verdeckt wurde. Schließlich sagte er grinsend: »Das Kissen kommt
raus wie 'n Baby.«
Francesca
blickte gerade noch rechtzeitig an sich hinunter, um zu sehen, wie das Kissen
zwischen ihren Füßen landete. »So ein Mist!«, presste sie hervor und schob es
nach hinten weg. »Junge, verschwinde von hier, das ist mein Ernst!«
Er lächelte
sie an, wobei zwei Grübchen auf seinen Wangen erschienen. Francesca
schätzte ihn auf ungefähr zehn oder elf Jahre. »Ich verschwinde erst, wenn Sie
mir einen Dollar oder zwei gegeben ham«, sagte er listig.
Er hatte seinen Preis erhöht! Sie mochte es
kaum glauben. »Ich werde dir höchstens eine Tracht Prügel verpassen«, zischte
sie.
»Versuchen Sie's ruhig«, gab er zurück. »Denn dann werd ich wie 'n
Verrückter schreien, und dann kommt der Fuchs und Sie sind dran!«
»Der Fuchs?«, brachte sie hervor. Diese ganze Sache lief nicht so,
wie sie es sich vorgestellt hatte.
Der Junge
warf einen Blick zu Bragg hinüber. »Der da drüben. Der Herr in dem Anzug und
der Melone. Hier schwirren überall Blaue rum«, sagte er selbstgefällig.
»Bedeutet
»Blaue« das, was ich glaube, was es bedeutet?«
»Schon
möglich«, antwortete der Junge vergnügt. »Das Auge des Gesetzes ist heute
überall.«
»Du
meinst, die Polizei ist hier?«
Er nickte. »Und wie. Aber – oje! Jetzt geht's los!«, rief er plötzlich.
Francesca sah ein Polizei-Fuhrwerk, das von vier Grauen die Straße
heraufgezogen wurde. Der Kutscher trieb die
Tiere mit der Peitsche zu einem wilden Tempo
an. Etliche Polizisten sprangen von dem Fuhrwerk herunter und rannten auf eine
der Schenken zu. Einer der Männer trat die Tür mit solcher Wucht ein, dass sie
aus den Angeln brach. Während Bragg mit den Armen in der Luft herumfuchtelte
und etwas schrie, stürmten die uniformierten Polizisten das Etablissement mit
erhobenen Knüppeln. Francesca begriff, dass die Polizei eine Razzia
durchführte, weil der Inhaber der Schenke gegen die »Blue Laws«, die
Sonntagsschließungsgesetze, verstoßen hatte.
Sie beobachtete, wie Bragg einen der
Sergeanten gegen eine
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