Brenda Joyce
angekündigt, dass er das
gesamte Personal befragen wollte. Francesca nahm die Liste und eilte aufgeregt
in ihr Zimmer.
Als sie gerade mit der Abschrift begonnen hatte, schlug die
Standuhr in der Ecke. Francesca fuhr erschrocken zusammen und blickte auf das
Zifferblatt. Zwölf Uhr.
A steht für Ameisen.
Wenn Sie den Jungen wieder sehen wollen, seien Sie morgen um 13 Uhr an der
Kreuzung von Mott und Hester Street.
Francesca starrte die Uhr an,
bis sie ihren letzten Schlag tat, und sprang dann auf.
Sie wusste nicht genau, wo sich die Mott und die Hester Street
befanden, doch aus einigen der Stadtführer, die sie anlässlich der Lektüre von Jacob Riis' Buch gelesen hatte, wusste sie,
dass sie irgendwo im Stadtzentrum, in einem üblen und gefährlichen Viertel zu
finden waren. Sie wusste auch, dass sie eigentlich gar nicht darüber
nachdenken sollte, wie schnell sie dort sein konnte.
Francesca schlug
das Herz bis zum Hals, und sie begann aufgeregt auf und ab zu laufen. Sie
hegte eine große Bewunderung für Eliza Burton und hätte zu gern dabei
geholfen, den kleinen Jungen wieder zu finden. Schließlich war sie eine
intelligente und einfallsreiche Frau. Und Bragg hatte weiß Gott genug damit zu
tun, den neuen Commissioner zu spielen, wo doch die Stadt so große Hoffnungen
hegte, dass er die Polizeibehörde von New York reformieren würde. Außerdem wäre
es gar nicht so schrecklich gefährlich, zu dem Treffpunkt zu gehen, denn
zweifellos würde sich auch Bragg mit einer Reihe von Streifenpolizisten und
Kriminalbeamten dort aufhalten.
Nach einer Weile hatte Francesca ihre
Entscheidung gefällt. Sie rannte aus dem Zimmer und erblickte ein Hausmädchen,
das gerade den Flur entlangkam.
»Betsy! Kommen Sie her!«, rief sie, zerrte das arglose Hausmädchen
in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen ab. »Habe ich etwas falsch
gemacht, Miss Cahill?«, fragte Betsy mit weit aufgerissenen Augen.
»Nein,
nein, ganz und gar nicht. Geben Sie mir Ihre Kleider!«
Francesca kauerte vor einem Mietshaus in der Nähe
der Mulberry Street, wo sie ihre Kutsche zurückgelassen hatte. Vor Aufregung
hatte sie schweißnasse Hände, wobei sie die Tatsache, dass sie nur drei
Straßenblöcke weit vom Polizeipräsidium entfernt war, nur wenig beruhigte.
Tatsächlich befand sie sich in jener Art
Stadtviertel, über die sie bisher nur gelesen hatte. Es war eine Sache, in der Suppenküche vor der Kirche Essen an die Annen
auszuteilen, aber eine ganz andere, ganz allein zwischen all diesen zerlumpten
Menschen zu hocken, die die Kälte gar nicht zu bemerken schienen. Der Grund
dafür wurde Francesca schnell klar: An der belebten Kreuzung Mott Ecke Hester
Street drängten sich insgesamt sechs Schenken, die ein wahrhaft einträgliches
Geschäft machten. Obwohl es Sonntag war und damit bis Mitternacht illegal,
Alkohol auszuschenken – außer in Hotels zu den Mahlzeiten – torkelten Arbeiter,
die zumeist deutscher Abstammung waren, in verschiedenen Stadien der
Trunkenheit zwischen diesen Etablissements hin und her. Auch etliche Frauen
tranken, allerdings auf der Straße. Eine von ihnen hatte ein mit Bier gefülltes
Eimerchen bei sich. Überall lungerten Bettler herum, Männer und Frauen, jung
und alt. Auf der Hester Street boten Händler ganz unterschiedliche Waren feil
– Ohrenschützer, Handschuhe und pharmazeutische Heilmittel oder »scharf
gewürzte« Fleischpasteten und »köstliche« Schweinefüße. Kinder in zerlumpter
Kleidung rannten durch die Menge, und Francesca beobachtete, wie ein kleines
Mädchen die Hand in die Manteltasche eines Mannes gleiten ließ und ihm die
Geldbörse herauszog, ohne dass er es bemerkte.
Währenddessen
saßen anstößig gekleidete Damen auf den Fensterbänken im Erdgeschoss
einschlägiger Etablissements und verhöhnten lauthals die Passanten, die auf dem
Bürgersteig vorübergingen. Auf der Straße fuhr hin und wieder ein leichter
Einspänner oder ein Rollwagen ohne Ladung vorbei.
Francesca kam sich vor wie in einem fremden Land, jenem Land, das
Jacob Riis in seinem berühmten Buch beschrieben hatte. Ihr war kalt und sie
zitterte, obwohl sie sich ein Kissen unter das Kleid gesteckt hatte, da ihr
Betsys Sachen viel zu weit waren. Auch die Kapuze des Umhangs hatte sie sich
übergestülpt, damit niemand ihr Gesicht sah. Francesca hatte bereits beschlossen, Betsy einen neuen Umhang zu kaufen, da der
alte recht abgetragen war. Langsam bereute sie ihre Entscheidung, zur Lower East Side zu kommen, denn
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