Brenda Joyce
Leistung.
»Nun, wie würde es dir gefallen, in einem schönen, warmen Bett zu
schlafen und ein Dach über dem Kopf zu haben?«, fragte Francesca spontan. »Wie
würde es dir gefallen, jeden Tag drei warme Mahlzeiten zu bekommen?«
Joel schaute sie an und kniff dann misstrauisch die Augen
zusammen. »Miss Cahill«, sagte er, »ich werd in kein Waisenhaus gehen. Nein,
das werd ich nich.«
Sie schüttelte den Kopf und tätschelte seine
kleine Hand. Er hatte sich Lumpen um die Handflächen gebunden und sie sah, dass
seine Finger vor Kälte gerötet waren. »Du würdest für das Bett und das Essen
natürlich ehrliche Arbeit leisten müssen. Aber ich bin mir sicher, dass wir in
den Ställen Verwendung für dich hätten. Du würdest für deine Anstrengungen
sogar einen kleinen Lohn erhalten. Was hältst du davon?«, fragte sie lächelnd.
Joel
blickte sie an, antwortete aber nicht sofort.
»Oder
möchtest du lieber weiter auf der Straße leben?«
»Ich hasse
es, wie ein Hund zu leben«, erwiderte er leidenschaftlich.
»Dann wäre
das ja geregelt.«
»Möglicherweise.«
»Was ist denn los, Joel?«, fragte sie
erstaunt. »Ich werde dem Commissioner nicht verraten, wo du bist, wenn du das
glaubst.«
»Nein, nein, darüber mach ich mir keine Gedanken. Was mich
beunruhigt ist, dass Sie was von mir wollen, aber ich weiß nich, was das ist.«
Francesca fühlte sich ertappt und lachte beklommen. »Ich möchte
dir helfen, weil du ein kleiner Junge bist und ich die Möglichkeit habe, dir zu
helfen«, sagte sie. »Aber da wäre schon etwas, wobei auch du mir helfen
könntest, aber nur, wenn du es freiwillig tust.«
»Vielleicht.
Was wollen Sie denn?«
Francesca fragte sich, ob sie wohl genauso geradeheraus wie Joel
gewesen wäre, wenn sie unter denselben Umständen wie er hätte leben müssen.
»Wer hat dir die Nachricht
gegeben?«, fragte sie. »Die Nachricht, die du Commissioner Bragg überbracht
hast?«
»Das ist ja einfach«, erwiderte
er erleichtert. »Das war dieser Grobian Gordino.«
»Gordino!«,
rief sie. »Dieser schreckliche Mann, der versucht hat, mich zu küssen und ...«
Sie verstummte. »Stimmt. Genau der.«
Francesca glaubte keine Sekunde lang, dass
Gordino klug genug war, eine Entführung zu planen, von der Durchführung ganz
zu schweigen. »Weißt du, wer sein Partner ist?«, fragte sie deshalb
hoffnungsvoll.
»Keine
Ahnung.«
Sie sank in den Sitz zurück,
beugte sich dann aber noch einmal vor. »Du hast dir doch sicher die Nachricht
auf dem Zettel angesehen. Wie lautete sie?«, fragte sie gespannt. »Ich kann
nich lesen«, erwiderte Joel.
Kapitel 5
SONNTAG, 19. JANUAR 1902 – 16 UHR
Nachdem Francesca die Küche verlassen hatte, blieb sie noch einen Moment
lang vor der Tür stehen. Sie hatte Joel in der Obhut von Mrs Ryan, der
Haushälterin der Cahills, zurückgelassen und ihr ausdrückliche Anweisungen gegeben.
Joel vertilgte gerade die Reste eines Schmorbratens – er schien einen
Bärenhunger zu haben – und sollte anschließend
zu seiner Bettstelle auf dem Dachboden über dem Stall geführt werden. Am
nächsten Tag würde er seine Arbeit als Stallknecht
beginnen, auch wenn er bisher überhaupt keine Erfahrung mit Pferden
hatte.
Francesca trug noch immer Betsys schwarzes Kleid und hatte sich
deren Umhang über den Arm gelegt. Auf dem Nachhauseweg hatte sie versucht, ihr
Haar zu einem Knoten aufzustecken, was ihr nicht gelungen war, da sie sämtliche
Haarnadeln verloren hatte. Aus diesem Grund hing ihr das Haar jetzt offen bis
zur Taille herab, und ihr war klar, dass sie einen verwegenen Anblick bieten
musste. Ob sie es wohl unentdeckt durch das ganze Haus bis zu ihrem Zimmer
schaffen würde? Sich hinauszuschleichen war recht einfach gewesen – ihre
Eltern und Evan hatten sich im Salon aufgehalten und dort über die Burtons
gesprochen. Doch inzwischen waren einige Stunden vergangen, und Evan war
vermutlich mittlerweile ausgegangen und trieb sich irgendwo herum. Aber ihre Eltern verbrachten die Sonntage oft zu Hause
– ganz besonders bei solchem Wetter. Die Küche befand sich im hinteren
Teil des Hauses, von wo aus Francesca nicht direkt zu ihrem Zimmer gelangen
konnte, da die Hintertreppe lediglich zu den Dienstbotenzimmern hinaufführte.
Doch es gab viele Dinge zu erledigen, weswegen sich Francesca
dringend umziehen musste. Deshalb hatte sie keine andere Wahl, als auf dem
gewohnten Weg in ihr Zimmer zu gehen.
Francesca wollte die Dienstboten zu den Vorfällen der letzten Nacht
Weitere Kostenlose Bücher