Brenda Joyce
befragen,
und am nächsten Morgen wollte sie den Postboten abfangen. Außerdem galt es, die
Gästeliste ihrer Mutter sorgfältig durchzusehen, sobald sie sie zu Ende
abgeschrieben hatte. Aber am allerwichtigsten war es herauszufinden, was
auf dem Zettel gestanden hatte, den Joel Bragg überbracht hatte. Die Warnungen
des Polizeipräsidenten hatte Francesca längst vergessen.
Sie eilte den Flur entlang, vorbei an der
schweren hölzernen Flügeltür des Salons bis zum hinteren Ende der verlassenen Eingangshalle.
Dort blieb sie für einen Augenblick stehen und lauschte, doch es war nichts zu
hören. Offenbar waren die anderen Familienmitglieder ausgegangen oder befanden
sich in ihren Privatzimmern.
In Windeseile flitzte Francesca auf die
Stufen zu. Als sie sich gerade auf dem Treppenabsatz zwischen dem Erdgeschoss und dem
ersten Stock befand, hörte sie jemanden unten in der Eingangshalle. In der
festen Überzeugung, dass es ihre Mutter war, presste sie sich flach gegen die
Wand.
»Francesca?«
Es war kein anderer als Connies
Ehemann, Lord Montrose.
Als er auf sie zukam, brachte Francesca nur mit Mühe ein Lächeln
zustande.
Ihre Schwester und deren Ehemann wohnten um die Ecke auf der
Sixty-second Street. Sie kamen häufig zu Besuch und aßen ebenso häufig mit Cahills zu Abend. Montrose war beinahe
einen Meter neunzig groß und hatte nicht ein Gramm überflüssiges Fett an seinem
kräftigen, muskulösen Körper.
Mit seinem dichten schwarzen Haar, den
strahlend blauen Augen und den hohen Wangenknochen war er ein ausgesprochen
attraktiver Mann. Sein Kinn zierte ein kleines Grübchen. Wegen seines guten
Aussehens himmelten ihn die meisten Damen an.
Vier Jahre zuvor hatte er Connie geheiratet. Seine erste Frau war
nur ein Jahr nach der Hochzeit bei einem Kutschenunfall gestorben. Es war eine schreckliche Tragödie gewesen.
Francesca würde niemals ihre erste Begegnung mit Montrose vergessen. Sie war
damals vierzehn gewesen und hatte keinen Ton herausgebracht, hatte es nicht
einmal geschafft, ihn zu begrüßen, wie es sich gehörte. Es war eine äußerst
peinliche Situation.
Jetzt blieb
Montrose in seinem Freizeitanzug am Fuß der Treppe stehen und blickte zu
Francesca hinauf, wobei er jedes Detail ihrer Aufmachung genau registrierte.
»Großer
Gott, was ist hier los, Francesca?«, rief er.
Sie öffnete
den Mund, bekam jedoch keinen Ton heraus.
»Geht es
dir gut?«, fragte er, während er die Treppe hinaufstieg, ohne den Blick von
ihr zu wenden. Als er den Treppenabsatz erreicht hatte, blieb er vor ihr
stehen. Francesca nickte. Warum musste sie sich in seiner Gegenwart nur stets
zur Idiotin machen? Es war ihr furchtbar peinlich.
»Hallo ... Neil«, brachte sie schließlich
hervor. Normalerweise unterhielt sie sich äußerst selten mit ihm, und noch
seltener sprach sie seinen Namen aus. »Es geht mir ... äh ... gut.«
Francesca errötete vor Scham darüber, dass er sie in dem
hässlichen, schwarzen Kleid eines Dienstmädchens erwischt hatte. Zwar war sie gewiss nicht eitel, aber es
war ihr trotzdem wichtig, dass sie in seiner Gegenwart einen netten Anblick
bot. Zweifellos hielt er sie für hausbacken und wahrscheinlich für einen
Dummkopf dazu.
Während sie verlegen vor ihm stand und am
liebsten das Weite gesucht hätte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass er gar
nicht auf ihr Kleid sah, sondern ihre wilde, goldblonde Haarmähne anstarrte.
Sein Gesichtsausdruck war grimmig, ganz so, als versuche er zu verbergen, was
ihm durch den Kopf ging.
»Was ist geschehen, Francesca?«, fragte er in einem Tonfall, wie
ihn nur wenige, die keine blaublütigen Aristokraten britischer Herkunft waren,
jemals zustande brachten. Es war ein Tonfall, der andere Menschen veranlasste,
sofort Haltung anzunehmen und zu salutieren.
Francesca hätte Montrose nur zu gern eine
ausgeklügelte Lüge aufgetischt, doch ihr Verstand schien in diesem Augenblick
nicht richtig zu funktionieren. Vielmehr kreisten ihre Gedanken um die Frage,
ob er ihren wilden Haarschopf wohl bewunderte oder verachtete. Ihre Schwester
hatte wunderschönes, seidenglattes Haar, das sie viel kürzer trug. Francesca
mied Montroses Blick. Als sie schließlich den Mund öffnete, brachte sie nur ein
gequetschtes »Nichts« hervor.
Sein Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an. »Sag mir, ob es
dir gut geht. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, mit deinem Vater zu reden.«
»Nein!«, rief sie und umklammerte ohne
nachzudenken seinen Arm, nur um ihre Hand sofort wieder
Weitere Kostenlose Bücher