Brenda Joyce
fassungslos
wie ich es war, als ich es erfuhr. Denk nicht weiter über die ganze
Angelegenheit nach. Wann willst du dich auf den Weg in die Stadt machen? Ich
werde Jennings Bescheid sagen.«
»In einer halben Stunde«, brachte Francesca
mit Mühe hervor.
Julia nickte
zufrieden. Sie strich ihrer Tochter noch ein letztes Mal über die Wange und
verließ die Eingangshalle. Francesca hatte das Gefühl, als habe ihr jemand eine
Holzlatte über den Schädel gezogen. Dieser Tag wurde einfach immer
schlimmer.
Während
sie sich in ihrem Zimmer ein wenig frisch machte, dachte sie unablässig an den
vermissten Jonny Burton und seine Eltern – und an Rick Bragg. Sie empfand eine
gewisse Bestürzung, obwohl sie sich nicht einzugestehen vermochte, warum es
sich so verhielt. Sie versuchte sich einzureden, dass es nichts mit Bragg zu
tun hatte. Wenn sie sich doch nur nicht auf diesen langen und lästigen Weg ins
Stadtzentrum machen müsste!
Aber sie war Wiley gegenüber sehr unhöflich
gewesen, und ihre Mutter hatte Recht, sie musste sich umgehend persönlich bei
ihm entschuldigen. Eine schriftliche Entschuldigung würde in diesem Fall
tatsächlich nicht ausreichen.
Nachdem Francesca Jennings angewiesen hatte, mit dem Brougham
vorzufahren, schaute sie kurz in der Küche vorbei, um sich nach Joel Kennedy
zu erkundigen.
Mrs Ryan war in der Speisekammer, wo sie gerade einige
Küchenmädchen über ihre Pflichten belehrte. Sie war eine große, hagere Frau mit
verblassendem roten Haar und blassblauen Augen. Eine Brille, die sie niemals
trug, baumelte an einer Kette vor ihrer schmalen Brust. Als sie Francesca
entdeckte, stemmte sie die Hände in die Hüften.
»Miss Cahill, der Junge ist nirgendwo
aufzufinden.«
Francesca blickte sie blinzelnd an. Diese Frau, die den Haushalt
ihrer Eltern mit eiserner Hand führte, hatte sie immer schon ein wenig
eingeschüchtert.
»Wie bitte?«
»Joel Kennedy ist verschwunden.« Mrs Ryan
blickte überaus grimmig drein, ein Gesichtsausdruck, der charakteristisch für
sie war. »Und ein Großteil des Tafelsilbers dazu.«
»Was?«, rief Francesca fassungslos.
»Er hat das Tafelsilber gestohlen, Miss
Cahill. Und ich bin nicht sehr glücklich darüber, es Mrs Cahill beichten zu
müssen.«
Francesca war schockiert. Joel hatte ihre Familie bestohlen, wo
sie doch so gütig gewesen war, ihm Arbeit und ein Dach über dem Kopf zu geben!
Aber noch viel schlimmer war, dass der Junge ihre einzige Verbindung zu Gordino
und dem Mann darstellte, der hinter Jonny Burtons Entführung steckte. Entsetzen
packte sie.
»Aber wie konnte er das Tafelsilber stehlen? Es ist doch
weggeschlossen, und Sie haben die Schlüssel, Mrs Ryan«, sagte Francesca.
»Ich werde Ihnen etwas zeigen«, erwiderte die
Haushälterin und verließ mit eiligen Schritten die Küche. Francesca folgte ihr.
Im Esszimmer stand ein riesiger
Mahagonischrank, der beinahe bis zur Decke reichte. Er stammte aus dem 17.
Jahrhundert und war wundervoll gearbeitet. Francesca wusste, dass darin das
wertvollste Silber, Kristall und Porzellan ihrer Mutter aufbewahrt wurde. Mrs
Ryan zeigte auf eine der unteren Schubladen. Sie war um das Schlüsselloch herum
stark zerkratzt.
»Er hat das Schloss aufgebrochen«, flüsterte Francesca entgeistert.
»Lassen Sie uns hoffen, dass er nicht noch mehr als das getan hat!
Es fehlte noch, wenn er einen Wachsabdruck vom Türschloss gemacht hätte und
demnächst mit seiner ganzen Bande zurückkäme.« Erneut stemmte Mrs Ryan die
Hände in die Hüften.
Einen
Moment lang fragte sich Francesca, ob die Haushälterin womöglich eine gewisse
Schadenfreude empfand, weil letztlich Francesca für den Diebstahl
verantwortlich war.
»Wir
müssen Obacht geben, falls Einbrecher versuchen sollten, in der Nacht ins Haus
einzudringen«, sagte sie.
»Ja, das müssen wir wohl«, gab Mrs Ryan zurück. »Soll ich es Ihrer
Mutter sagen, oder wollen Sie es lieber selbst tun?«
Francesca atmete tief ein. »Ich muss jetzt in die Stadt, Mrs Ryan.
Bitte behalten Sie die Angelegenheit noch eine Weile für sich, ich werde es
meiner Mutter im Laufe des Abends sagen.« Sie nahm sich vor, es so lange wie
nur eben möglich hinauszuzögern.
»Sehr wohl.« Mrs Ryan drehte sich um und verließ das Zimmer mit
flinken Schritten.
Francesca machte sich mit grimmigem Gesicht auf, ihren Mantel zu
holen. Sie hatte Joel Kennedy helfen wollen, und er hatte sich als ein
undankbarer kleiner Dieb erwiesen.
»Wiley und Söhne« lag an der Ecke von Broad und
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