Brenda Joyce
Wall Street. Francesca
hatte eine Stunde benötigt, um in die Stadt zu gelangen, da es immer noch
leicht schneite. Zudem setzte allmählich die Dämmerung ein und schon bald würde
es dunkel sein. Francesca bat Jennings, an der Stelle, wo er in zweiter Reihe
neben einigen anderen Kutschen und wenigen Automobilen gehalten hatte, zu
warten, und trat vorsichtig auf die Bordkante hinab.
Sie war bereits seit einigen Jahren nicht
mehr in dieser Gegend gewesen, obwohl sich die Büroräume ihres Vaters in der Nähe
befanden. Als sie das letzte Mal diesen Teil der
Stadt besucht hatte, war die Straße voller Fußgänger, Droschken und
Kutschen gewesen. Heute waren – wohl aufgrund des Wetters – nur wenige
Gentlemen unterwegs, die sich beeilten, ihren Geschäften nachzukommen, und die
meisten von ihnen hatten schwarze Schirme über ihren Köpfen aufgespannt.
Francesca betrat die Vorhalle des Gebäudes und begab sich dann in
den ersten Stock. Der Herr am Empfang wies ihr den Weg zu einem Eckbüro. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging
Francesca auf das Büro zu und klopfte vorsichtig an die geschlossene Tür.
»Herein!«, ertönte Wileys Stimme von drinnen, worauf sie zögernd
eintrat.
Er saß mit aufgerollten Hemdsärmeln an einem großen Schreibtisch
und schien sehr beschäftigt zu sein. Als er aufblickte, zog er überrascht die
Augenbrauen hoch. Eine Sekunde später war er bereits aufgesprungen.
»Miss
Cahill!«, rief er.
Francesca trat weiter ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Ich habe einen schrecklichen Fehler
begangen«, sagte sie leise und lächelte entschuldigend. »Ich habe leider völlig
vergessen, dass wir heute zum Mittagessen verabredet waren.«
Wiley kam auf sie zu. Seine Wangen hatten einen tiefen Rotton
angenommen. »Das ist nicht so schlimm ... warten Sie, ich nehme Ihnen den
Mantel ab ... was für eine freudige Überraschung!«
Francesca
hatte eigentlich nicht vorgehabt, sich länger aufzuhalten, aber sie wollte
ihre Unhöflichkeit nicht noch weiter auf die Spitze treiben, und so reichte
sie Wiley den Mantel.
»Bitte erlauben Sie, dass ich
es Ihnen erkläre«, sagte sie.
»Gewiss – obgleich keine Erklärung
vonnöten ist«, erwiderte er mit ernstem Blick. »Ich kann einfach nicht glauben,
dass Sie bei diesem Wetter in die Stadt gekommen sind.«
Er hängte ihren Mantel an einen Wandhaken. Dann öffnete er die Tür
und rief seinem Gehilfen zu, er solle ihnen Tee und Kuchen bringen.
Anschließend schloss er die Tür wieder, sah, dass Francesca noch stand, und
beeilte sich, einen der freien Stühle heranzuziehen.
»Bitte, so nehmen Sie doch Platz«, sagte er.
Francesca lächelte ihn an und setzte sich. Sie
fühlte sich jetzt noch schlimmer als zuvor. Er schien tatsächlich in sie vernarrt
zu sein, und sie hatte seine Gefühle auf herzlose Weise missachtet.
»Sie haben gewiss schon von der Burton-Entführung gehört«, setzte
sie an, während er einen weiteren Stuhl heranzog, auf dem er ihr gegenüber
Platz nahm.
»Eine schreckliche Tragödie«, sagte er ernst.
Die Rötung seiner Wangen hatte nachgelassen, und er hatte beinahe wieder seine
normale Gesichtsfarbe.
»Nun, diese Angelegenheit hat heute Morgen meine Aufmerksamkeit
in Anspruch genommen. Ich kenne die Zwillinge recht gut, und Jonnys
Verschwinden hat mich ganz krank vor Sorge gemacht.«
»Das tut mir aufrichtig Leid«, sagte Wiley inbrünstig und beugte
sich dabei ein wenig vor.
Francesca sah ihn zum ersten Mal richtig an. Er schien ein netter
Mann zu sein.
»Ich danke
Ihnen«, sagte sie lächelnd.
»Wie geht es Mrs und Mr Burton?«, fragte er. »Sie müssen ja außer
sich sein vor Angst.«
»Das sind sie. Sie können im Grunde nichts anderes tun, als darauf
zu warten, dass die Polizei den Fall löst.«
»Die arme
Mrs Burton!«, sagte Wiley.
Francesca stutzte und betrachtete ihn
neugierig. Sie erinnerte sich daran, wie er Eliza am Samstagabend mit offener
Bewunderung angeschaut hatte. Aber das hatten Dutzende anderer Gentlemen
natürlich auch getan. Dennoch fragte sie sich, ob Wiley womöglich ein wenig in
Eliza verliebt war.
»Kennen Sie
Mrs Burton schon lange?«, fragte sie.
»Das kann man wohl sagen! Außerdem spiele ich
im Sommer mit Robert Burton Golf in Saratoga Springs, wo wir unser Sommerhaus
haben.« Er lächelte. »Die Burtons wohnen nur knapp fünf Kilometer weit von uns
entfernt.«
»Ich verstehe«, sagte Francesca, und ihr Herz
begann schneller zu schlagen. »Das wusste ich nicht.«
Sie
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