Brenda Joyce
werden und uns kein Mann auch nur eines
Blickes mehr würdigt.«
Francesca starrte ihre Schwester verblüfft an. Was für eine
eigenartige Bemerkung!
»Miss?
Beabsichtigen Sie hier auszusteigen?«
Francesca starrte aus dem Fenster der
Mietdroschke. Die Fabrikräume von Moe Levy und Company befanden sich auf der
Thirty-second Street zwischen der Seventh und der Eigth Avenue im zweiten Stock
des Gebäudes, das sie gerade betrachtete. Das dreistöckige Backsteingebäude
machte einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck, worin es sich nicht von den
anderen Häusern in der mit Schlaglöchern übersäten Straße unterschied. Die
Fassaden waren schmutzig, etliche Fensterscheiben zerbrochen, und die wenigen
Arbeiter, die hier herumliefen, sahen müde und verhärmt aus.
»Natürlich steige ich aus«, sagte Francesca, die dem Kutscher
bereits den Fahrpreis gezahlt hatte. Als sie besonders vorsichtig auf den Gehweg trat, um nicht auf dem gefrorenen,
schmutzigen Schnee auszurutschen, fragte sie sich, wie sie in dieser Gegend
jemals eine Droschke finden sollte, um wieder nach Hause zu kommen. Bis auf
zwei vorüberfahrende gedeckte Einspänner, deren Ladung sie nicht zu identifizieren
vermochte, war die Straße leer.
Die Droschke fuhr davon. Francesca
umklammerte ihren Muff mit der einen Hand, ihre Geldbörse mit der anderen. Zwei
Männer in ausgebeulten, schlecht genähten Jacken und mit Mützen auf dem Kopf
starrten sie im Vorübergehen an. Ein verwahrloster Hund urinierte gegen das Rad
eines abgestellten Einspänners. Aus einem der Gebäude drangen Schreie – es
klang so, als bräche dort gerade ein großer Streit aus. Francesca pochte das
Herz bis zum Hals.
Was tue ich nur hier?, fragte sie sich
beklommen.
Dann schüttelte sie heftig den Kopf, als könne
sie sich auf diese Weise von Furcht und Zweifeln befreien. In diesem Gebäude
arbeitete Maggie Kennedy, und Francesca hatte keine andere Wahl, als sie an
ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen. Und es wäre zu gefährlich gewesen, sich von Jennings
oder einem anderen ihrer Kutscher herfahren zu lassen, denn eine einzige Frage
ihrer Mutter hätte genügt, und es wäre alles aufgeflogen. Sollte Julia jemals
erfahren, wo sich ihre jüngere Tochter in diesem Moment aufhielt, so würde sie
ihr wohl für mindestens sechs Monate Hausarrest erteilen.
Die Eingangstür mit den großen, rostenden
Riegeln war nicht verschlossen. Francesca drückte die Tür auf und blickte in
einen düsteren, unbeleuchteten Flur. Eine Treppe mit abgewetzten Stufen führte
nach oben.
Sie betrat das Treppenhaus, in dem es verdächtig nach Urin stank,
und stieg in den zweiten Stock hinauf. Als sie den Treppenabsatz erreicht hatte, meinte sie, das Surren von Maschinen
und eine menschliche Stimme zu hören. In diesem Stockwerk gab es einen kleinen
Flur, an dessen Enden sich jeweils eine Tür befand. Francesca trat auf die Tür
zu, von der sie vermutete, dass die dahinterliegenden Räume auf die Seventh
Avenue hinausgehen mussten.
Sie öffnete die Tür und erblickte einen riesigen Raum mit etlichen
großen Holztischen darin, an denen Schneider und Näherinnen an Maschinen und von Hand nähten. Überall türmten sich
Stoffballen. Durch die Fenster an drei Wänden ergoss sich das Tageslicht in den
Raum, das noch durch den grellen Schein der elektrischen Deckenlampen verstärkt
wurde. Nach der Dunkelheit des Treppenhauses musste Francesca unwillkürlich
blinzeln, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte.
Als sie die Tür hinter sich schloss, drehten sich einige Köpfe in
ihre Richtung um. Sie ließ ihren Blick durch den Raum wandern und fragte sich,
welche der Frauen wohl Maggie Kennedy sein mochte – falls sie an diesem Tag
überhaupt anwesend war. Ein dicker Mann in einem schlecht sitzenden Anzug und
Krawatte kam auf sie zu.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«,
fragte er mit starkem Akzent. Womöglich war er ein Deutscher oder ein Russe.
»Ich bin auf der Suche nach
Maggie Kennedy, die hier arbeiten soll«, erwiderte Francesca lächelnd. »Ich
muss sie in einer sehr dringenden Angelegenheit sprechen.«
»Sie arbeitet tatsächlich hier, aber sie ist sehr beschäftigt«,
sagte der Mann und musterte sie neugierig.
»Es ist wirklich wichtig«, drängte Francesca.
»Am besten kommen Sie um sechs Uhr wieder. Dann geht sie nach
Hause.«
»Ich habe einen weiten Weg auf mich genommen,
um mit ihr zu sprechen. Diese Angelegenheit kann wirklich nicht warten«,
erklärte Francesca, die langsam verzweifelte.
Doch
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