Brenda Joyce
musste unwillkürlich an das vermisste Kind und ihre
Pläne für den bevorstehenden Abend denken, und die Vorstellung drehte ihr
beinahe den Magen um. Sollte Bragg jemals herausfinden, dass sie ...
»Ich hoffe sehr, dass sie den Jungen bald finden«, flüsterte Sarah
in diesem Moment.
»Ich auch.« Francesca sprang
auf. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange von Ihrer wunderbaren Arbeit
abgehalten.« Sarah errötete. »Sie schmeicheln mir.«
»Sie sind viel zu bescheiden«, erwiderte Francesca mit fester
Stimme.
Sarah begleitete sie zur Tür. »Vielen Dank für Ihren Besuch, Miss
Cahill.«
»Nennen Sie mich doch Francesca! Außerdem wäre
ein Du doch wohl angebrachter, da wir eines Tages beinahe Schwestern sein
werden.«
»Sehr gern,
Francesca. Dann bin ich von nun an Sarah.«
Francesca
lächelte.
Ihre
zukünftige Schwägerin fügte überraschenderweise hinzu: »Ich würde dich eines
Tages gern malen. Darf ich?«
Francesca
stammelte verblüfft: »Nun ja, ich ... ich weiß nicht so recht ...«
»Es liegt viel unter deinem wunderschönen
Äußeren verborgen, das es zu entdecken gilt. Du bist ein so vielschichtiger Mensch
– es wäre ein überaus aufregendes Projekt«, sagte Sarah. »Denk doch bitte
einmal darüber nach.«
Francesca starrte Sarah an. So hatten ihre
Augen nicht gestrahlt, als sie über ihren Bruder und die Hochzeit sprachen ...
»Das werde ich«, versicherte sie ihr.
»Ich danke dir.« Sarah begleitete sie pflichtbewusst bis zur
Eingangstür.
Während der kurzen Fahrt durch den Park war Francesca tief in
Gedanken versunken. Sarah war eine weitaus interessantere Frau, als sie jemals
vermutet hatte.
Nachdem
Francescas Eltern am Abend in die Oper aufgebrochen waren, verkündete Evan,
dass auch er ausgehen würde. Er wollte in den Metropolitan Club fahren. Es traf
sich also alles ganz wunderbar. Wenn der restliche Abend doch auch nur so gut
verlaufen würde!, dachte Francesca. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe
einer Verkleidung, sondern zog ihren Mantel an und verließ rasch das Haus. Auf
der Straße, wo zu dieser späten Stunde nur noch wenig Verkehr herrschte, winkte
sie einen Einspänner heran, der sie innerhalb von zwanzig Minuten zur Avenue A
brachte. Joel saß bereits auf der Eingangstreppe der Nummer 201 und wartete auf
sie. Er hatte sich einen braunen Schal um den Hals gewickelt und trug eine
abgetragene, karierte Mütze auf dem Kopf. Bevor sie überhaupt seinen Namen
rufen konnte, war er bereits in die Kutsche gesprungen.
»'n Abend, Miss Cahill«, sagte er grinsend.
Francesca war inzwischen das
reinste Nervenbündel und vermochte sein spitzbübisches Grinsen nicht zu
erwidern. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«
Er lachte schallend. »Was glauben Sie, wie
viele Mietkutschen vor diesem Haus halten?« Er beugte sich vor und klopfte
gegen die Glastrennwand. »Twenty-third Street, Nähe Broadway.«
Der
Einspänner fuhr los.
Francesca konnte Joel in dem düsteren Inneren
der Kutsche nicht genau erkennen. Die Tatsache, dass die Straßenbeleuchtung
hier in der Innenstadt so schlecht war, kam erschwerend hinzu.
»Joel, bitte sag mir, wo wir hinfahren«, bat
sie ihn und hörte selbst die Verzweiflung in ihrer Stimme. Mittlerweile bedauerte
sie, dass sie Bragg nichts von ihrem Vorhaben erzählt hatte, und fragte sich,
ob sie nicht besser eine Nachricht auf ihrem Bett hinterlassen hätte – für den
Fall, dass ihr etwas zustieße und sie nicht nach Hause zurückkehrte.
Joel antwortete nicht. Er kniete auf dem Sitz
neben ihr und blickte aus dem hinteren Fenster der Kutsche. Francesca schaute
ebenfalls hinaus, konnte aber auf dem stellenweise von Eis bedeckten
Kopfsteinpflaster nichts entdecken. Dann begriff sie plötzlich, wonach der
Junge Ausschau hielt.
»Ich habe niemandem von diesem ... diesem
Abenteuer erzählt«, sagte sie kurz angebunden.
»Will bloß
sichergehen, dass uns keiner beschattet.«
»Beschattet?«
»Beschattet«,
bestätigte er und setzte sich wieder.
»Wohin fahren
wir denn?«
»Sie müssen keine Angst haben. Es ist bloß 'ne Schenke. Gordino
hat 'ne Schwäche für Karten und Würfel. Wenn er unterwegs ist, dann ist er da.«
Eine Schenke. Genau das hatte sie befürchtet. Wie um Himmels
willen sollte sie eine Schenke betreten?
»Ich werd vorgehen«, versicherte Joel ihr.
»Um zu sehen, ob er da ist. Sie bezahlen den Kutscher, damit er wartet. Ich
bring ihn dann raus, damit Sie mit ihm reden können. Wird schon alles gut
gehen, Miss.« Er
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