Brenda Joyce
einer
Künstlerin stand, denn überall an den Wänden lehnten Leinwände, einige größer
als Francesca selbst. Es waren bis auf wenige Ausnahmen allesamt Porträts.
Einige der Ölgemälde waren fertig gestellt, andere befanden sich in
unterschiedlichen Stadien der Vollendung.
Sarah Channing stand mit dem Rücken zur Tür in
der Mitte des Ateliers und war in die Betrachtung eines großen Gemäldes
vertieft, das sich auf einer Staffelei vor ihr befand. Sie trug ein schlichtes
hellblaues Tageskleid mit einer Schürze. Selbst der Rücken des Kleides
war mit roten, blauen und braunen Farbflecken beschmiert. Als Sarah sich
umdrehte, sah Francesca, dass sie einen Pinsel in der Hand hielt und einen
ockerfarbenen Klecks auf der Wange hatte.
»Hallo, Miss Cahill«, sagte Sarah lächelnd. »Welch eine
Überraschung!«
Francesca war für einen Moment sprachlos. Die
schüchterne, kleine Sarah Channing war also eine Künstlerin! Und eine
großartige noch dazu, soweit es Francesca zu beurteilen vermochte. Sie schien
ihre Kunst hingebungsvoll auszuüben, denn die Malerei konnte nicht nur ein
bloßer Zeitvertreib für sie sein. Ihre Arbeiten wirkten absolut professionell
– jedes der Porträts hätte gut und gern an einer Wand der Cahillschen Villa
hängen können. Sarahs Stil hatte etwas Verträumtes und erweckte beim Betrachter
den Eindruck, als sehe er das Sujet durch einen feinen Schleier. Francescas
Blick wanderte von Porträt zu Porträt, und sie stellte fest, dass jede der
dargestellten Personen einen völlig anderen Ausdruck trug.
Da war beispielsweise das Porträt des
Bürgermeisters. Er lächelte nicht, doch sein Blick brannte mit der für ihn typischen
Leidenschaft. Das Porträt zweier Mädchen zeigte vollkommene Unschuld und
Fröhlichkeit, und ein Gemälde stellte Sarahs Mutter dar, deren Augen jenen für
sie typischen versonnenen Ausdruck trugen. Mrs Channing wirkte stets ein wenig
zerstreut, und es war Sarah ganz hervorragend gelungen, dies einzufangen.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie so gut malen
können«, sagte Francesca bewundernd. Sie konnte ihren Blick gar nicht von den
vielen wundervollen Gemälden losreißen.
Sarah legte den Pinsel beiseite und wischte sich die mit Farbe
beschmierten Hände an der Schürze ab.
»Nur wenige Menschen wissen davon. Mutter
wünscht es so.«
Francesca blickte Sarah interessiert an. Vielleicht hatten sie
doch mehr gemeinsam, als sie anfangs geglaubt hatte. Wie der äußere Anschein
doch trügen konnte!
»Sie sind eine große Künstlerin«, sagte sie.
Sarah errötete. »Aber nein«, widersprach sie.
»Ich bin zwar keine Kunstkritikerin, aber ich finde Ihre Bäder
einfach fabelhaft.«
Sarah strahlte sie an, und in diesem Moment
begriff Francesca, dass sich diese Frau mit der gleichen Leidenschaft für ihre
Kunst engagierte wie Francesca für die Politik. Und plötzlich sah sie ihren
Bruder vor sich, wie er – schneidig und flott mit einem Frack bekleidet – zu
einem seiner Clubs aufbrach, um dort den Abend bei Wein und gutem Essen und
einem kleinen Spielchen zu verbringen. Sie dachte an Evan, wie er in seinen
Staubmantel schlüpfte und die Schutzbrille aufsetzte, um sich zu einem Ausflug
mit seinem schnellen Automobil aufzumachen. Evan auf dem Tennisplatz,
schweißgebadet Ball für Ball schlagend, entschlossen, seinen Gegner zu
bezwingen – in der Hoffnung, dass ihm einige Damen vom Spielfeldrand aus
zujubelten.
Francesca fragte sich, ob ihr Bruder und
Sarah wirklich zueinander passten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sarah
ihr Atelier aufgeben würde, um Evan bei einem Tennisspiel Beifall zu klatschen
oder ihm nachmittags auf einem Ausflug mit der Jacht oder dem Automobil
Gesellschaft zu leisten.
»Es tut mir Leid, dass Sie mich in einer solchen Aufmachung
antreffen«, unterbrach Sarah ihre Gedanken.
»Ich darf Ihnen versichern, dass die Schuld
allein bei mir liegt«, erwiderte Francesca lächelnd. »Ich bin gekommen, um
Ihnen zu der bevorstehenden Verlobung mit meinem Bruder zu gratulieren«, fuhr
sie fort.
»Das dachte ich mir schon. Dort drüben auf dem
Tisch steht etwas Limonade. Darf ich Ihnen ein Glas anbieten?«, fragte Sarah,
die bereits auf die einzigen Sitzgelegenheiten im Raum zusteuerte, die sich vor
einem Kamin befanden. Ein altes, grünes Sofa und zwei in Gelbtönen gestreifte,
abgenutzte Sessel, die einen bequemen Eindruck machten. Dazwischen stand auf
einem kleinen, mit einer Spitzendecke verzierten Tisch ein Tablett mit einem
Krug
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