Brenda Joyce
Beine weggetreten wurden. Im Fallen packte ihn ein Arm
wie ein Schraubstock.
Panik.
Gott, war dies wirklich das Ende?
Von brennendem Schmerz völlig benommen fühlte er, wie er über die
Straße geschleift wurde. Als der Angreifer ihn fallen ließ, erkannte er das
Gesicht – es war Charlie, niemand anders als Charlie, ein großer, brutaler
Schläger, der für einen bestimmten Geldverleiher und Kredithai arbeitete. Evan
begriff, dass er sich erklären musste. Die Schlagringe krachten auf seine Stirn
nieder. Verzweifelt packte Evan Charlies Handgelenk.
Charlie schüttelte ihn lachend ab und versetzte ihm einen Stiefeltritt
in die Rippen.
Evan schnappte keuchend nach Luft. Er spürte,
wie seine Rippen brachen, und im nächsten Moment wurde ihm erneut schwarz vor
Augen.
Es folgten weitere Tritte, jeder einzelne
wohl gezielt – in den Bauch, die Nieren, den Unterleib. Dazu weitere Schläge
mit den Schlagringen. Hilflos lag Evan da, ein Haufen gebrochener Knochen, und
drohte an seinem eigenen Blut zu ersticken. Zuletzt hörte er noch, wie der
Angreifer ihm zuraunte: »Keine Sorge, du stirbst nicht. Das hier ist nur eine
Warnung, Cahill.«
Kapitel 15
SONTAG, 17. FEBRUAR 1902
– 20 UHR
Der
Gefängnisdirektor hatte sie am Bahnhof abgeholt – an einem Bretterschuppen mit
verriegelter Tür und einem schief hängenden, verwitterten Schild, auf dem
stand: KENDALL. Sie beide waren die einzigen Fahrgäste, die hier ausstiegen. In
weiteren eineinviertel Stunden würde der Zug Albany erreichen.
»Sie müssen Commissioner Bragg sein. Hab ja schon so einiges über
Sie gelesen. Und Sie sind dann wohl die Detektivin, Miss Cahill. Ich dachte
mir, ich komm selbst hier runter und hol Sie ab – kommt ja schließlich nicht
alle Tage vor, dass ich was mit so einer großen Ermittlung zu tun habe.«
Bragg schüttelte Timbull die Hand. Der Gefängnisdirektor war ein
großer, stämmiger Mann mit markantem Kinn und einem gewaltigen Bauch. Er kaute Tabak und roch ein wenig nach billigem
Whiskey, doch seine Augen funkelten heiter. »Ich danke Ihnen für das Treffen,
Warden«, sagte Bragg. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich so kurzfristig
Zeit für uns genommen haben, denn wir sind in großer Eile. Wir fahren noch
heute zurück in die Stadt, mit dem Zug um fünf nach zwölf.«
»Kann ich Ihnen nich verdenken«, bemerkte Timbull und schob seinen
Kautabak in die andere Backe. Lächelnd hob er Francescas Tasche auf. »Also,
das ist die hübscheste Detektivin, die ich je gesehen habe.«
Francesca
errötete unwillkürlich. »Danke, Warden.«
»Nix zu danken«, versetzte er und ging voran. Drei Stufen aus
Eichenholz – eine davon mit einem breiten Riss – führten auf einen hölzernen
Gehsteig hinunter, der mit Eis und Schnee bedeckt war. »Vorsicht. Ganz schön
glatt hier draußen.«
Da es eine dunkle, mondlose Nacht war,
konnten sie kaum etwas erkennen, und so fiel es ihnen schwer, auf dem
rutschigen Boden nicht auszugleiten. In einiger Entfernung leuchtete eine
einzige Straßenlaterne, und da Francesca die Umrisse von etwa einem Dutzend
Gebäuden ausmachen konnte, nahm sie an, dies müsse der Ortskern sein. Als Bragg
sie fest am Ellenbogen fasste, wagte sie es, ihn anzusehen.
Er blickte zur Seite.
Schon den ganzen Tag schien er ihr ausweichen zu wollen – kein
leichtes Unterfangen, wenn man bedachte, dass sie beide bereits kurz vor Mittag
in den Zug gestiegen und seitdem in ihrem Privatabteil unter sich gewesen waren.
Die achtstündige Fahrt hatten sie in unbehaglicher Atmosphäre zurückgelegt –
so, als seien sie Fremde, keine Liebenden, ja nicht einmal Freunde. Bragg hatte
über Stapeln von Berichten und Akten gebrütet, wie kein Mensch sie jemals
sollte lesen müssen. Er hatte lediglich bemerkt, dies sei eine gute Gelegenheit
für ihn, liegen gebliebene Schreibtischarbeit aufzuholen, und dann hatte er
sich verschanzt wie hinter einer Ziegelmauer, von der Francesca wusste, dass
sie sie nicht durchdringen durfte. Sie war völlig vor den Kopf gestoßen.
Eigentlich hatte sie sich ausgemalt, sie würden den Tag mit
Gesprächen zubringen, mit Diskussionen über ihren Fall, über politische Themen,
über ihr Leben. Doch offenbar hatte Bragg andere Vorstellungen.
Glücklicherweise hatte Francesca ihre Biologie-Unterlagen und
Flauberts Madame Bovary eingepackt, sodass sie ihrerseits die Zeit
nutzen konnte, um etwas für ihr Studium zu tun. Als der Schaffner mit diversen
Zeitungen vorbeikam, kaufte sie die Times, The Sun und
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