Brenda Joyce
mich hinauswerfen würde. Francesca, respektierst
du mich?«, wollte Julia wissen.
Wäre sie nicht schon so angespannt wie nur irgend möglich gewesen,
so hätte sich bei dieser Frage alles in ihr verkrampft. »Du weißt, dass ich das
tue.«
»Wirst du dann auch meine Regeln respektieren?«, fragte Julia
weiter.
Francesca zögerte. »Mama, wenn jemand in Schwierigkeiten steckt –
oder in Gefahr schwebt –, wie kann ich ihn oder sie dann im Stich lassen? Wie?
Ich bin einfach nicht fähig, einem Menschen in Not den Rücken zu kehren!«
»Und darin liegt das eigentliche Problem«, stellte Julia seufzend
fest. »In deinem leidenschaftlichen und mitfühlenden Wesen.
Mitgefühl ist etwas
Wunderbares. Wohltätigkeit ebenso. Wir spenden jedes Jahr tausende Dollar für
verschiedene gute Zwecke – das weißt du. Wir sind mitfühlende Menschen. Aber
deine Art von Wohltätigkeit sieht so aus, dass du Menschen, die sich in einer
verzweifelten Notlage befinden, eigenhändig hilfst. Und das ängstigt mich
entsetzlich.« Sie erhob sich. »Kannst du mir das verdenken?«
»Nein.«
Francesca stand ebenfalls auf.
»Warum bist du wirklich ausgegangen? Wo warst du?«, forschte
Julia.
Francesca hasste es, ihre
Eltern anzulügen. Außerdem würden sie ohnehin bald von dem Vandalismus in
Sarahs Atelier erfahren, da sie schließlich Evans Verlobte war. Plötzlich
musste Francesca wieder an den Schurken denken, der Lucy Savage derart bedrängt
hatte. Was verheimlichte Lucy? »Ich hatte beschlossen, Sarah zu besuchen.« Sie
befeuchtete ihre Lippen, ehe sie fortfuhr: »Jemand ist in ihr Atelier
eingebrochen und hat es entsetzlich verwüstet, Mama.«
Julia starrte sie entgeistert an. »Ist Sarah etwas zugestoßen? Und
wie geht es Mrs Channing?«
»Beide sind furchtbar
aufgelöst, aber im Übrigen wohlauf.«
Plötzlich musterte Julia ihre
Tochter mit tiefstem Argwohn. »Was sich bei den Channings ereignet hat, ist Sache
der Polizei«, verkündete sie energisch.
Francesca hoffte, ihre Mutter möge nicht bemerken, in welchem
inneren Zwiespalt sie steckte. Sie hatte Bragg bisher nicht von dem Verbrechen
in Kenntnis gesetzt, obwohl sie den Channings versprochen hatte, es zu melden.
Doch dann hatte sein Familientreffen ihre guten Absichten zunichte gemacht.
Sie scheute sich, das Telefon zu benutzen. Es war eine umständliche
Form der Kommunikation, und manchmal war die Übertragung so schlecht, dass man
einander kaum verstehen konnte. Wenn sie sich jetzt ein wenig ausruhte, konnte
sie sich vielleicht später noch einmal hinausstehlen und ihn zu Hause
aufsuchen. Um das Thema zu wechseln, sagte sie: »Braggs Familie ist in die
Stadt gekommen.«
Diese Nachricht überraschte Julia. »Rathe und Grace Bragg sind
nach New York zurückgekehrt?« Ihre Miene hellte sich schlagartig auf. »Ich
freue mich sehr darauf, sie wiederzusehen. Tatsächlich hatte ich bereits davon
gehört, dass sie überlegten, wieder in die Stadt zu ziehen. Das sind ja
wunderbare Neuigkeiten.«
»Kennst du
sie gut, Mama?«
»Rathe Bragg hat sich ebenso wie Andrew sehr für Grover Clevelands
Wiederwahl eingesetzt«, erklärte Julia. »Er ist ein ebenso eifriger Reformist
wie dein Vater, und ein überzeugter Republikaner ist er ebenfalls.«
»Er hat in Clevelands erster Regierung ein Amt bekleidet«, ergänzte
Francesca. »Ich kann es gar nicht erwarten, alles darüber zu erfahren.«
»Ja, ich kann mir vorstellen, dass du diese Gespräche hochinteressant
finden wirst. Ich werde die Braggs zum Abendessen einladen.« Die Vorstellung
entlockte ihr ein Lächeln. »Vielleicht schon am Sonntag. Das ergibt gewiss eine
nette Tischgesellschaft.«
Francesca schluckte. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen!
»Mama, was das Dinner am Sonntag betrifft ...«, setzte sie an.
»Komm mir ja nicht mit Ausreden!«, schnitt
Julia ihr das Wort ab. »Du wirst dabei sein. Calder Hart hat die Einladung angenommen,
wie du sehr wohl weißt – du warst schließlich selbst dabei.«
Tiefes Unbehagen befiel Francesca.
Sie bemühte sich nach Kräften, nicht mehr an Lucys absurde Frage zu denken,
welchen der zwei Brüder sie liebte. Francesca wusste, warum Julia Hart für den
Sonntagabend eingeladen hatte: Sie war entschlossen, Francesca bald zu
verheiraten, und hatte sich ausgerechnet Hart als zukünftigen Schwiegersohn in
den Kopf gesetzt. Das war völlig absurd, da Hart keinen Hehl daraus machte,
dass er überhaupt nicht beabsichtigte zu heiraten. Ledige junge Frauen würdigte
er kaum
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