Brenda Joyce
Behausung sein.
Draußen vor der verschlossenen Tür erklangen Schritte auf
Holzbohlen.
Ihre Tränen begannen zu fließen.
Der Riegel wurde zur Seite
geschoben und das Vorhängeschloss geöffnet. Ihr Atem ging flacher und
schneller.
Die Tür öffnete sich und sie erblickte kurz die große Silhouette im
Türrahmen.
Sie begann
vor Angst zu keuchen.
Er schloss die Tür und schritt langsam auf sie zu, wobei er ihr
wieder einmal sagte, was er gern alles mit ihr anstellen würde, was er sich in seiner Phantasie
ausgemalt hatte, was er aber nicht tun würde, da sie eine Hure war. Er hasste Huren.
Warum bloß musste sie wie all die anderen sein?
Gab es denn keine anständigen Frauen, keine
Damen mehr? Wie konnte sie ihm das nur antun? Er beugte sich herab, packte ihr
Gesicht mit seiner großen Hand und sie wimmerte.
»Keine Sorge«, sagte er, »ich bringe dich noch nicht um.«
Sie rang nach Luft, versuchte zu sprechen. »Bitte lass mich gehen.
Ich werde auch nichts verraten.«
Er lachte, riss ihren Kopf an den Haaren zurück. »Ich werde dich
nicht gehen lassen, aber ich glaube, das weißt du selbst, nicht wahr?«
Sie überwand sich, ihn anzusehen. Er hatte die Augen eines
Sadisten und eines Wahnsinnigen und darin brannte das Feuer der Lust und der
Genialität. Aber das Schlimmste war, dass sie ihn kannte und dass sie sich
irgendwo tief in ihrem Inneren eigentlich immer schon vor ihm gefürchtet hatte.
Nun musste sie sich ihren geheimen Ängsten stellen: dass er sie nicht am Leben
lassen würde, damit sie der Welt sagen konnte, wer er war, was er in Wahrheit
verkörperte.
»Niemand wird jemals erfahren, dass ich es war!«, rief er
triumphierend und ließ sie los.
Er löste ihre Fesseln, damit sie den Nachttopf
benutzen konnte, warf ihr Brot und Käse zu, fesselte sie wieder an Händen und
Füßen an den Stuhl und ließ sie allein zurück.
Melinda
Neville brach erneut in Tränen aus.
Kapitel 18
SAMSTAG, 22. FEBRUAR 1902 – 17:00 UHR
»Hast du das
hier gesehen, Andrew?«, fragte Julia, als ihr Mann das Haus betrat.
Andrew reichte dem Türsteher seine Melone, seinen Spazierstock
mit der Spitze aus Elfenbein, den Mantel und die Handschuhe. Julia hielt ihm
mit ernster, entschlossener Miene die Sun entgegen. »Ja, ich habe es
gesehen. Wie sollte ich nicht?« Schon den ganzen Tag über plagten ihn die
Sorgen um seinen Sohn.
Julia sah ihn grimmig an. »Bitte komm in den
Salon«, forderte sie ihn auf, und es war weniger ein Ersuchen als ein Befehl.
Er seufzte, machte sich innerlich auf eine
Auseinandersetzung gefasst und wünschte zugleich, es möge nicht dazu kommen.
Er folgte seiner Frau in den kleinen Salon, der vorwiegend der Familie und engen
Freunden vorbehalten war. Andrew wusste, dass Julia immer noch wütend auf ihn
war wegen des schrecklichen Streits, den er mit Evan gehabt hatte, bevor dieser
am letzten Montag so furchtbar zusammengeschlagen worden war. In der Folge
dieses Streits hatte sich Evan entschieden, aus seinem Haus auszuziehen, das an
die Villa seiner Eltern grenzte und mit dieser verbunden war. Dass Julia ihm
wegen des Vorfalls zürnte, war Andrew Cahill klar, auch ohne dass sie es ihm
sagte. Aber auch er war wütend.
»Ich habe keinen Einfluss auf die Reporter in dieser Stadt«,
erklärte er.
Julia schloss die Tür hinter ihm. »Warum nicht? Du hast genug
Geld, um Einfluss auszuüben, wo immer es dir beliebt.«
»Gibst du mir etwa die Schuld an diesem Zeitungsartikel?«, fragte
er ungläubig.
»Wir wissen beide, dass Miss Conway Evans
Mätresse war. Ich mache mir selbst Vorwürfe, dass ich die Augen davor
verschlossen und so getan habe, als wüsste ich nichts von dieser überaus
unschicklichen Affäre. Aber dir mache ich den Vorwurf, dass du nichts unternommen
hast, um zu verhindern, dass derartige Andeutungen in die Zeitungen gelangen!«,
rief sie. »Wir haben doch derzeit wirklich genug Sorgen! Connie ist
schwermütig, Evan ernstlich verletzt, es hat zwei Morde an Frauen gegeben, mit
denen er in Verbindung stand, und Francesca läuft einem verheirateten Mann
hinterher! Unsere Familie bricht auseinander und ich kann das nicht mehr länger
ertragen!« Sie ließ sich auf das Sofa sinken und schien den Tränen nahe. Aber
Julia weinte selten und tat es auch jetzt nicht. »Wie konnte es nur so weit
kommen, Andrew?«
Er seufzte. Julia war eine stahlharte Frau.
Er liebte sie über alles, hatte sie vom Moment ihrer ersten Begegnung an
geliebt. Und er wusste, dass er richtig gehandelt hatte,
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