Brenda Joyce
das
heißen?«
Lucy wich zurück. »Ich verstehe nicht ganz.«
Francesca befeuchtete ihre Lippen, mahnte sich zur Vorsicht.
»Bragg glaubt, dass Hart durch mich versucht, ihn zu treffen, Lucy.«
Lucy blickte sie mit großen Augen an. »Die
beiden sind Rivalen, solange ich denken kann!«, rief sie aus. »Als mein Vater
sie mit nach Hause brachte, war Rick elf und Calder neun. Rick versuchte sich
um Calder zu kümmern, aber der hat sich trotzig dagegen gesträubt. Wenn Rick
ihm sagte, er solle vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein, dann kam
er erst zurück, wenn es bereits stockduster war. Sie sind zum ersten Mal
handgreiflich geworden, als Calder zwölf war. Ich erinnere mich noch gut daran,
denn ich war damals dabei. Rick passte wie immer auf Calder auf. Ich weiß gar
nicht mehr, worum es bei ihrem Streit ging, aber Calder drehte sich um und
versetzte ihm einen Faustschlag auf die Nase. Rick war schockiert und Calder
außer sich vor Wut. Er hat ihn ein weiteres Mal geschlagen und dann hat Rick
zurückgeschlagen. Es war schrecklich – eine ziemlich blutige Angelegenheit –
und Vater musste die beiden trennen. Von diesem Tag an haben sie sich oft
geprügelt. Calder hat es gehasst, wenn Rick ihm sagte, was er tun und lassen
sollte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass Rick der Verantwortungsbewusste
war, während er selbst ständig in Schwierigkeiten steckte. Aber was ihm
am allermeisten missfiel, war die Tatsache, dass Rathe Ricks Vater war und
nicht seiner.«
Francesca tat das Herz weh, als sie das hörte, und sie verspürte
tiefes Mitleid mit Calder. »Er hat darunter gelitten, dass Rathe kam, um Rick
zu holen, während sein eigener Vater nichts von ihm wissen wollte, als seine
Mutter starb«, sagte sie leise.
»Ja, ich glaube, da haben Sie recht.«
Francesca fragte sich, ob das noch immer der Grund für Harts
Eifersucht auf seinen Halbbruder war.
Lucy fuhr fort: »Aber schließlich sind sie jetzt erwachsen. Ich
kenne die beiden so gut. Calder würde Ihnen nie nachlaufen, um Rick wehzutun.
Niemals! Dieses alberne, unreife Spiel haben sie als Jugendliche gespielt. Aus
solchen Konkurrenzkämpfen dürften sie inzwischen doch herausgewachsen sein.«
Francesca schrak zusammen. »Wie bitte? Wollen Sie etwa damit
sagen, dass Calder schon einmal auf Ricks Gefühlen herumgetrampelt ist?«
Lucy schien ihre Worte bereits zu bedauern. »Francesca, diese
Spielchen haben sie gespielt, als sie noch Jungs waren. Das ist lange her!«
Francesca setzte sich mühsam auf. Furcht
überkam sie. »Was für Spielchen?«, rief sie. »Wollen Sie etwa damit sagen, dass
Hart Frauen nachgestellt hat, die Bragg mochte?«
»Ich hätte das gar nicht erzählen sollen«, versetzte Lucy und ihr
Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an. »Das ist zehn Jahre her,
Francesca. Wirklich. Seitdem sind die beiden getrennte Wege gegangen.«
Francesca bemerkte, dass sie ein Kissen
umklammert hielt.
Sie starrte reglos vor sich hin und hörte im Geiste wieder Braggs
wütende Beteuerung, dass Hart sie benutzte, um seine – Braggs – Hoffnungen
zunichtezumachen.
Sie weigerte sich, das zu glauben, aber dennoch wurde sie dieses
Unbehagen nicht los.
Plötzlich eilten ihre Mutter und ihr Vater ins Zimmer. Grace und
Hart blieben im Türrahmen hinter ihnen stehen. »Francesca!«, riefJulia.
»Calder hat uns erzählt, dass du aus einer Droschke gestürzt und auf Eis
ausgerutscht bist! Geht es dir auch gut? Ach, du meine Güte! Dein Gesicht!«
Während Julia sie umarmte, schaute Francesca
über die Schulter ihrer Mutter zu Calder Hart hinüber. In seinen Augen lag ein
inniger, aber zugleich auch warnender Ausdruck.
Francesca wandte den Blick ab. Sie war ganz und gar nicht
beruhigt, wusste einfach nicht mehr, was sie von ihm halten sollte.
SONNTAG, 23. FEBRUAR 1902 – 10:00 UHR
Sie hatte
verschlafen. Francesca blieb auf der Türschwelle zu Harts Frühstückszimmer
stehen, das so groß war wie die meisten formellen Esszimmer in den Häusern
anderer Leute. Es überraschte sie nicht, den langen, dunklen, polierten
Eichentisch bis auf ein Gedeck leer vorzufinden. Als sie herunterkam, war es
im ganzen Haus sehr still gewesen – offensichtlich waren die Braggs keine Langschläfer,
und sie vermutete, dass alle ausgegangen waren und sich nur noch die
Bediensteten im Haus aufhielten.
Francesca schritt zur Anrichte hinüber,
bemüht, die unlieb samen Erinnerungen an den vorausgegangenen
Abend von sich zu schieben. Eine abgedeckte Schüssel
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