Brennende Fesseln
zu«, wiederholt er und läßt seine Hand sanft über mein Gesicht gleiten. Nachdem er auf diese Weise meine Augen geschlossen hat, nimmt er seine Hand weg.
Mit gespreizten Beinen und geschlossenen Augen sitze ich da – völlig wehrlos.
Mein Körper ist angespannt, meine Brust wie eingeschnürt. Ich möchte die Augen aufmachen, tue es aber nicht. Ich spüre, daß M. irgendeine Art von Test durchführt, eine Nervenprobe, um meinen Mut zu testen. Stecknadeln der Angst bohren sich in meine Haut. Ich denke an seine Brusttasche und das, was er hineingeschoben haben könnte.
»Bleib so«, sagt er, und ich reiße den Kopf herum, als ich die Berührung spüre. Seine Finger fahren die Kontur meines Kieferknochens nach. »Entspann dich«, sagt er und nimmt seine Hand weg. »Aber beweg dich nicht. Und laß deine Augen geschlossen.«
Ich höre ihn weggehen oder glaube zumindest, daß er weggeht – der Raum ist mit Teppich ausgelegt, und ich bin mir nicht sicher. Ich öffne meine Augen einen winzigen Spalt weit, zu einem fast nicht wahrnehmbaren Schlitz, damit M. es nicht bemerkt, falls er mich beobachtet. Ein Streifen schummrigen Lichts dringt durch meine Wimpern. Mein Gesichtsfeld ist eng, und alles, was ich sehe, sind meine Handflächen und die Oberseite meiner Füße. Ich denke an Franny in ihrer roten Korsage, wie sie, mit gespreizten Beinen an den Eßzimmerstuhl gefesselt, auf M.s Bestrafung wartete. Wie diese Bestrafung aussah, kann ich nur raten. Ich befürchte, daß M. mit mir etwas Ähnliches vorhaben könnte, und balle die Fäuste. Aber dann höre ich aus der anderen Hälfte des Zimmers Musik. Ich öffne die Augen. M. sitzt am Klavier. Ein merkwürdiger Mann. Ich sitze hier in schwarzer Spitzenunterwäsche, mit weit gespreizten Beinen, und er spielt am anderen Ende des Raumes Klavier.
Die Ironie des Ganzen bringt mich zum Lächeln. Nun, da ich M. in sicherer Entfernung weiß, kann ich mich entspannen. Eine Aura aus Licht umgibt ihn, und er sieht fast wie ein Engel aus – sein Gesichtsausdruck wirkt friedlich, seine Finger bewegen sich anmutig über die Tasten, die Falten in seinem Gesicht werden durch das schmeichelnde Licht geglättet. Er hat einen Stutzflügel, etwa eins fünfzig lang und glänzend schwarz. Der Deckel ist hochgeklappt. Die Musik scheint schwerelos in der Luft zu schweben, weich, romantisch, poetisch – ein Stück von Chopin, würde ich sagen, obwohl ich mir nicht sicher bin.
Ich schließe die Augen und höre zu. Die Melodie tanzt langsam und leicht dahin, immer weiter, wie ein frei dahinfließender Süßwasserstrom, und ich lasse mich von ihr an einen idyllischen Ort vergangener Jahre tragen, wo ich Feldblumen pflückte und gelben Schmetterlingen nachjagte. Es ist eine schöne Melodie, hypnotisch in ihrer Einfachheit. Aber dann,
gerade als das letzte bißchen Spannung aus meinem Körper weicht, ändert sich das Tempo.
Ich beobachte M. Er sieht jetzt nicht mehr so engelsgleich aus, sondern sitzt mit gerunzelter Stirn über die Tastatur gebeugt, völlig auf sein Instrument konzentriert. Er hämmert die Musik aus sich heraus: laut, rhythmisch, zutiefst sinnlich. Sie rollt dahin wie ein wildes Gewässer, ihre Wellen schwappen über, überschlagen sich, werden größer und größer. Mit wogenden Akkorden erfüllen sie den Raum, jede Ecke, von der Decke bis zum Boden, und dann erfüllen sie mich. Mein Puls geht schneller. Ich spüre M., spüre seine Intensität, seine Hitze quer durch den Raum. Die Melodie zieht mich zu ihm hin, obwohl ich mich keinen Zentimeter bewegt habe. Während die Musik auf ihren Schluß zubraust, scheint er mich und alles um sich her vergessen zu haben. Dann ist das Stück plötzlich zu Ende, und M. sitzt einen Moment ruhig da, um sich wieder zu fangen. Im Raum herrscht Stille. Eine tödliche, leidenschaftliche Stille. Er steht auf und kommt zu mir zurück.
»Das war… wundervoll«, sage ich und meine es auch so. Franny hat in ihrem Tagebuch an keiner Stelle erwähnt, wie begabt er ist. Ich fühle die Musik immer noch, ihre beunruhigende Melodie läßt mich nicht los. M. dagegen wirkt wieder völlig beherrscht.
Er steht vor mir, eine Hand in der Hosentasche, und scheint nachzudenken. Eine Strähne seines schwarzen Haars ist ihm in die Stirn gefallen, aber er streicht sie nicht zurück. »Die Musik«, sagt er, »ist meine Leidenschaft. Sie ist das einzige im Leben, was Bestand hat.«
»Nicht jeder würde dem beipflichten«, sage ich. »Was ist mit anderen
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