Brenntage - Roman
einige Soldatenlieder in- und auswendig, die mir eines Tages (als lose Blätter) vor die Füße geflattert waren …
Es steht ein Soldat am Wolgastrand, hält Wache für sein Vaterland, in dunkler Nacht allein und fern, es leuchtet ihm kein Mond, kein Stern …
Der Wind erfüllte mitunter die geheimsten Wünsche so manches Bewohners der Siedlung. So erfuhr ich etwa (als ich ganz still in der Nähe unserer Hecke lag), dass sich die Töchter unseres Nachbarn «Schmetterlinge im Bauch» wünschten, und schon am nächsten Tag hatte der Wind tatsächlich einen ganzen Schmetterlingsschwarm durch unsere Siedlung geblasen, ab vom Kurs und durch unsere Gärten und Gassen.
Bestimmt
sind die Mädchen nunmehr glücklich
, dachte ich damals und freute mich mit ihnen, früher konnte ich das noch.
Ich selbst konnte es nicht lassen, mir ein paar Schmetterlinge einzufangen, ich ließ sie später durch unser Haus flattern und wunderte mich noch, dass sie immer wieder beharrlich gegen die Fensterscheiben flogen. Einmal sah ich im Fernsehen ein «Vermessungsschiff» die Welt umfahren (ich verstand kaum, was ein Vermessungsschiff eigentlich vermessen wollte), Abermillionen Schmetterlinge kreuzten irgendwo im offenen Meer plötzlich den Kurs dieses Schiffes, sie regneten schließlich entkräftet herab, und die Besatzung schaufelte verzweifelt um ihr Leben. Die noch zuckenden Leiber bedeckten mannshoch das Deck (und es wurden immer mehr), sie verlangten den Männern alles ab, wo doch solch große Schmetterlingsschwärme Tonnen wogen und das Schiff zu kentern drohte. Wie dieses Abenteuer ausging, vermag ich, nicht zu sagen, dummerweise fiel der Strom aus, und im ganzen Haus krochen Silberfischchen und «Kreuzwürger» aus den Mauerritzen, sie mochten die Dunkelheit und nährten sich von ihr.
Der Wind brachte auch viele neue Baum- und Pflanzensamen in unsere Gegend, nicht zu glauben, was für seltsame Wünsche einige Menschen in unserer Siedlung haben mussten. Manche der neuen Pflanzen keimten sogar in kleinsten Ritzen und Spalten, sie eroberten sich allerlei Mauerwerk, die zugehörigen Dachrinnen und natürlich Dielen. Wenn man sie nicht sogleich herausriss, ließen sich die Wurzeln (die rasend schnell wuchsen) nur noch entfernen, indem man die Häuser abriss, nicht die kleinste Verästelung durfte irgendwo verbleiben.
Sie ähneln herrischen
Völkern,
sagte mein Onkel, und er meinte wohl die Art und Weise ihres unbändigen Expansionsdranges.
Ich sah einmal, wie eine der neuen Pflanzen in unserem Garten austrieb, gleich unter meinem Fenster hatte sie sich zwischen den alteingesessenen Grashalmen verfangen, und kaum hatte es zu regnen begonnen, war schon ein dünner, mannshoher Stängel in die Höhe geschossen, er stach mir beinahe ins Auge. Schon nach ein paar Stunden bildeten sich erste Knospen, sie verdichteten sich zu dicken Knollen, und am nächsten Tag schillerten tatsächlich bunte Blüten in der Sonne (rot und blau und gelb). Sie wippten von einer Seite zur anderen, selbst wenn der Wind nachließ, als würden sie der ganzen Landschaft einen neuen Takt angeben wollen. Die Kinder der Siedlung gaben ihnen keine richtigen Namen, wir benannten sie einfach nach ihren Farben …
Rotkraut
(klar war das irreführend),
Blaukraut
(ditto!) und
Gelbkraut
, es mussten schließlich einfache und vertraute Wörter sein, die man schnell aussprechen konnte, bevor man es sich anders überlegte (wenn man etwas benennt, dann macht man es dadurch doch lebendig!).
Die Mutter schrieb mir in einem ihrer Briefe, dass man mit kurzen Worten viel besser seine Gefühle zum Ausdruck bringen konnte, weil sie einem beim Ein- und Ausatmen ganz automatisch über die Lippen kamen, man sparte sich also die Zeit, darüber nachzudenken, was man eigentlich sagen wollte. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich oder die anderen Kinder jemals
vielsilbige
Worte in den Mund genommen oder diese langwierig buchstabiert hätten. Möglicherweise dachten wir auch, dass wir dadurch jemanden (oder etwas) verwünschen würden, die vielen Silbensuchten unablässig nach einem Ziel, keiner konnte doch diesen Legionen entkommen …
sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki, ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin!
(Anm. Zweiter Merseburger Zauberspruch:
Ob Knochenverrenkung, ob Blutverrenkung, ob Gliedverrenkung, Knochen zum Knochen, Blut zum Blute, Glied zum Gliede, als ob sie geleimt wären!)
Im Spätherbst brachte der Wind manchmal dichte Vogelschwärme,
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