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Brezeltango

Brezeltango

Titel: Brezeltango Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Kabatek
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eine unendliche Sehnsucht, dass ich die Treppe hinunterschlich und seine Nummer wählte. Doch kaum hatte ich die letzte Ziffer gedrückt, presste ich den Finger auf die rote Stopp-Taste, rannte wie ein aufgescheuchter Hase die Treppe hinauf und heulte mich wieder in den Schlaf.
    Tarik rief ab und zu an und erinnerte mich leicht vorwurfsvoll daran, dass eine Muse, die durch komplette Abwesenheit glänzte, ihren Job nicht besonders gut machte. Er wollte mich unbedingt wiedersehen, damit ich ihn zu weiteren Fleisch-Kunstwerken inspirierte. Ich vertröstete ihn. Der Gedanke an ihn war nach wie vor ziemlich beunruhigend, aber im Moment war mein Herz zu schwer. Erst wollte ich noch ein bisschen um Leon trauern.
    Meiner Schwester ging es nicht viel besser. Frank hatte sich ein Zimmer in Böblingen genommen, sah die Kinder am Wochenende und noch immer hatte es keine Aussprache zwischen ihm und Katharina gegeben. Katharina traf sich weiterhin mit Max, ihrem amerikanischen Freund, und hatte nicht den geringsten Plan, was sie tun sollte, wenn Max Anfang Dezember zurück in die USA ging.
    An einem kühlen, sonnigen Novembertag kam mir Frank im Schlosspark entgegen, Hand in Hand mit einer kleinen Frau mit dunklem Teint und langen schwarzen Haaren. Ich drehte mich abrupt um und ging schnell in die andere Richtung, aber Frank rannte hinter mir her und blieb keuchend vor mir stehen.
    »Du hast dich ja schnell getröstet«, rutschte es aus mir heraus.
    »Moment mal«, sagte Frank scharf. »
Sie
ist gegangen, nicht ich!«
    Ich sah ihn an und schwieg.
    Plötzlich brach Franks Fassade zusammen. »Ach, Line ... Ich vermisse sie so schrecklich. Ich weiß, dass es nicht immer einfach mit mir war. Ich möchte, dass alles so ist wie früher. Und die Kinder. Ich will bei den Kindern sein. Lena und ihre große Klappe. Sie fehlt mir auch so schrecklich ... Ich habe alles verloren, was mir wichtig war. Vor ein paar Wochen hatte ich eine Familie. Jetzt bin ich allein. Es tut so wahnsinnig, wahnsinnig weh.«
    Ich sah Frank ungläubig an. So hatte ich ihn noch nie erlebt. So klein und unglücklich.
    »Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät«, sagte ich leise.
    »Aber sie liebt ihn doch!«, sagte Frank verzweifelt.
    »Und du ...«, sagte ich. Auweia. Ich bewegte mich auf schwierigem Terrain. Liebe! Nicht gerade mein Spezialgebiet. »Hast du es ihr eigentlich gesagt? Dass du sie immer noch liebst, meine ich.«
    Frank schüttelte stumm den Kopf. »Das hätte doch sowieso nichts mehr geändert«, sagte er müde. »Der Zug ist längst abgefahren.« Dann drehte er sich um und ging.
    Ich überlegte lange, ob ich Katharina davon erzählen sollte. Am Ende ließ ich es bleiben. Eigentlich waren nur Lila und Harald wirklich glücklich. Von ihrer Mallorca-Woche waren sie strahlend und braungebrannt zurückgekehrt.
    Mittlerweile war es kalt und ungemütlich geworden. Eigentlich liebte ich den Herbst, weil er so wunderbar unordentlich war. Überall lag Laub herum, in großen Haufen und vollkommen unkoordiniert. Man konnte mit dicken Stiefeln durch Blätterberge rascheln und die Leute ärgern, die erbitterte Kämpfe mit überdimensionierten Laubsaugern ausfochten. Aber dieses Jahr ließ ich Laubhaufen Laubhaufen sein und verkroch mich nach drinnen.
    Ich seufzte und schlug die russische Ausgabe der »Anna Karenina« zu. Ich konnte mich sowieso nicht mehr konzentrieren. Lila hatte recht. So ging es nicht weiter. Ich musste mich endlich wieder um einen Job kümmern. Ich würde mal wieder in die Stadtbücherei fahren, um die Stellenanzeigen in den Zeitungen durchzusehen. Vielleicht war es langsam an der Zeit, einen Job außerhalb von Stuttgart zu suchen? Mit der Vergangenheit abzuschließen. Und nicht in der ständigen Angst zu leben, Leon zu begegnen, womöglich mit Yvette im Schlepptau.
    Weil ich keine Hose mehr hatte, die mir passte, holte ich aus Lilas Schrank eine auberginefarbene Pumphose und fixierte sie mit einem Gürtel. Die Hose war viel zu kurz für mich, aber mit Stiefeln würde es gehen. Ich lief die Treppe hinunter und kramte nach Handschuhen. Auf dem Rad würde ich sie brauchen. Das Telefon klingelte.
    »Hallo, Line! Tarik hier!« Seine tiefe Stimme kroch mir warm den Rücken hinunter.
    »Hallo, Tarik.«
    »Am Samstag muss ich mich bei einer Vernissage blicken lassen, und du kommst mit. Ich akzeptiere jetzt wirklich keine Ausreden mehr! Erstens musst du mal wieder vor die Tür, und zweitens brauche ich Begleitung. Sonst hängen die Groupies wieder an

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