Brian Lumleys Necroscope: Buch 2 - Vampirbrut (German Edition)
unvorstellbare, sich ständig ausdehnende Zukünfte verbreitete. Nein, dieses nicht. Harry wählte ein anderes Tor. Diesmal zogen sich die Myriaden blauer Lebensfäden von ihm weg und vereinten sich in großer Entfernung zu einem einzigen, blendend hellen blauen Punkt. Das war das Tor in die Vergangenheit, das zum Anbeginn allen menschlichen Lebens auf der Erde führte. Und auch dorthin wollte er nicht. Er hatte eigentlich schon zuvor gewusst, dass keines dieser Tore das richtige war, aber er übte seine Fähigkeiten auf diese Weise, trainierte seine Kräfte – das war alles.
Hätte er keine Aufgabe gehabt … doch er hatte ja eine. Sie deckte sich weitgehend mit jener, die ihn sein körperliches Leben gekostet hatte, denn sie war ja nicht vollendet worden. Harry schob alle Gedanken und Überlegungen beiseite und konzentrierte sich in seiner unfehlbaren Intuition auf die richtige Richtung.
Er rief in Gedanken nach demjenigen, von dem er wusste, dass er da sein musste.
»Thibor?« Sein Ruf durcheilte die schwarze Leere. »Antworte mir nur, und ich finde dich schon. Dann unterhalten wir uns.«
Ein Augenblick verging. Ob es eine Sekunde war oder eine Million Jahre – im Möbius-Kontinuum war das dasselbe. Und für die Toten spielte es ohnehin keine Rolle.
Ahhhhh!, kam die Antwort. Bist du das, Haaarrrry?
Die mentale Stimme des alten Vampirs unter der Erde war für ihn wie ein Leuchtfeuer: Er bewegte sich darauf zu, erreichte ein Möbius-Tor und trat hindurch.
Es war Mitternacht über den Kreuzhügeln, und dreihundert Kilometer weit in alle Richtungen schlief der größte Teil der Rumänen. Es war nicht notwendig, dass sich Harry und die Bilddarstellung seines Kindes hier materialisierten, denn es sah sie sowieso niemand. Doch das Wissen darum, dass sie jemand sehen könnte, verlieh Harry ein Gefühl der Körperlichkeit. Selbst als Schemen hatte er den Eindruck, jemand zu sein – nicht nur eine körperlose telepathische Stimme, ein Gespenst. Er schwebte über die Lichtung der reglosen Bäume, näherte sich dem verfallenen Eingang zu dem, was Thibor Ferenczys Gruft gewesen war. Um sich herum ließ er einen ganz schwachen Lichtschimmer entstehen. Dann wandte er seine Gedanken nach außen, in die Dunkelheit der Nacht hinein.
Hätte er einen Körper besessen, hätte Harry ein wenig gezittert und einen Schauder empfunden – aber einen ganz und gar körperlichen und keinen geistigen. Denn das untote Böse, das man vor fünfhundert Jahren an dieser Stelle begraben hatte, war nicht mehr untot, sondern wirklich und endgültig tot.
Wobei diese Tatsache eine andere Frage aufwarf: Waren alle Reste beseitigt? War es … ganz und gar … tot? Denn Harry Keogh hatte eines gelernt und war immer noch dabei, dies zu verarbeiten: Der Vampir klammerte sich mit ungeheurer Zähigkeit an das Leben!
»Thibor«, sagte Harry. »Ich bin da. Gegen den Rat all jener unzähligen Toten bin ich zurückgekehrt, um mit dir zu sprechen.«
Aaaahhhh! Haaarrry – du tröstest mich, mein Freund. Du bist mein einziger Trost! Die Toten flüstern in ihren Gräbern, sprechen von diesem oder jenem, aber sie meiden mich. Ich bin als Einziger wirklich … allein! Ohne dich gäbe es nur das Vergessen …
Wirklich allein?
Das bezweifelte Harry. Seine empfindliche ESP-Wahrnehmung sagte ihm, dass noch etwas da war – etwas, das sich zurückhielt, das abwartete –, etwas, das immer noch Gefahr bedeutete. Doch sein Misstrauen verbarg er vor Thibor.
»Ich habe dir etwas versprochen«, sagte er. »Du sagst mir, was ich wissen will, und als Gegenleistung werde ich dich nicht vergessen. Auch wenn es nur ein, zwei Augenblicke sind, werde ich dennoch hier und da Zeit finden, um mit dir zu sprechen.«
Weil du gut bist, Harry. Weil du ein gutes Herz hast. Während die Toten unfreundlich zu mir sind. Sie haben immer noch etwas gegen mich!
Harry kannte die Ablenkungsmanöver des alten Dings unter der Erde ganz genau. Thibor würde unter allen Umständen das Thema zu meiden versuchen, weswegen er vor allem hergekommen war. Vampire sind eben die Abkömmlinge Satans, sprechen seine Sprache, und deshalb hört man von ihnen vor allem Lügen und Ausflüchte. So bemühte sich Thibor also nach Kräften, die Unterhaltung in die gewünschte Richtung zu lenken – diesmal die »unfaire« Behandlung seiner geschätzten Person durch die große Mehrheit. Harry gab ihm keine Chance.
»Du hast keinen Grund, dich zu beschweren«, sagte er zu dem Alten. »Sie kennen dich
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