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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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wissen. »Die Provinzregierung?«
    Ihr Lachen schlug tiefe Kerben in das Blechdach. »Um Himmels willen«, sagte sie. »Was hier los ist, interessiert die einen feuchten Dreck. Wir arbeiten ehrenamtlich. Freunde helfen uns hin und wieder mit ein paar Francs aus.«
    Siri wurde klar, dass Anhänger des alten Regimes dieses Instandhaltungsprojekt finanzierten. Wahrscheinlich hofften sie darauf, dass die gute alte Zeit eines schönen Tages wiederkehren würde und Prinz Boun Oum höchstselbst auf seinem weißen Elefanten in die Stadt geritten käme. Royalisten waren unverbesserliche Optimisten.
    Sie waren in der dritten Etage angekommen, wo weitläufige Terrassen den Blick nach allen Seiten freigaben. Die Rückseite des Gebäudes grenzte unmittelbar an den Xedon, der nur ein paar hundert Meter weiter in den mächtigen Mekong mündete. In der Ferne waren die Ebenen von Champasak und die Hänge des Bolaven-Plateaus zu sehen.
    »Ich muss gestehen, der Ausblick ist grandios«, sagte Civilai und stützte sich auf die Brüstung. Unter ihnen erstreckte sich ein Anwesen, das begrünt gewiss noch spektakulärer ausgesehen hätte: ein halbfertiger Tennisplatz, ein riesiger Wasserturm und Unterkünfte, vermutlich für das Personal. »Selbst der Gartenschuppen ist größer als dein Haus, Siri.«
    »Reichlich überdimensioniert, das Ganze«, sagte Siri. »Genau wie das Ego des Prinzen«, setzte er leise, aber offenbar nicht leise genug hinzu. Die Frau hatte Ohren wie ein Luchs.
    »Er war ein guter Mensch«, blaffte sie. »Ein herzensguter Mensch.«
    Siri hatte nicht die Absicht, sich auf eine Auseinandersetzung mit einer Royalistin einzulassen. Er suchte krampfhaft nach einem anderen Gesprächsthema.
    »Ihr Mann hat wohl nicht allzuviel zu sagen, was?«
    »Mein Mann hat überhaupt nichts zu sagen. Er ist nämlich tot.«
    Siri und Civilai sahen sich fragend an. Da verschlug es selbst einem gestandenen Leichenbeschauer die Sprache.
    »Er …?!«
    »Er ist seit sieben Jahren tot. Das hier ist mein Bruder. Er hat … Probleme.«
    »Aha.« Ein zweiter Themenwechsel war angebracht. »Was ist denn das da oben?«
    Er zeigte zur obersten Etage, die aus einem einzigen Raum von der Größe eines kleinen Observatoriums zu bestehen schien.
    »Nichts«, sagte sie. Etwas zu forsch, um wahr zu sein.
    »Wir müssen es uns trotzdem ansehen«, sagte Civilai und stieg die Außentreppe hinauf.
    »Es ist abgeschlossen«, rief sie ihm hinterher, doch davon ließ er sich nicht beirren. Schon der erste Versuch entlarvte sie als Lügnerin. Die Tür ging auf, er trat hindurch, und Siri folgte auf dem Fuße. Gebannt starrten die beiden an die gewölbte Decke. Sie war mit Szenen aus dem Ramayana und einem Dschungel bemalt, in dem es von hölzern und dilettantisch ausgeführten Wildtieren wimmelte. Rings um den Rand marschierte eine endlose Prozession deformierter Elefanten. Ihre Mahuts trugen Schutzhelme und Vorschlaghämmer.
    »Das wart ihr«, fauchte die Frau und kam herein. »Eure Leute. Ach, was war es doch schön, Bauern, die auf Elefanten geritten kommen, um dem Prinzen die Ehre zu erweisen. Dann kam diese elende Bande daher und malte ihnen Helme und Blaumänner. Es wäre zu bourgeois, haben sie gesagt; die Arbeiter fehlten. Was, bitte, ist so bourgeois an einem Mann auf einem Elefanten? Ruiniert haben sie es. Ruiniert.«
    Alle bis auf Siri verließen die schaurige Rotunde. Er blieb allein zurück und folgte der Elefantenprozession mit den Augen. Unfähig, den Blick von ihnen abzuwenden, stand er in der Mitte des Raumes und drehte sich, langsam erst, dann immer schneller. Die Elefanten und ihre proletarischen Jockeys galoppierten über die Decke. Die Lambrequins über den Fenstern entwickelten ein Eigenleben. Sie verwandelten sich in eine naga – eine böse Schlange. Sie kroch von der Wand herab und ringelte sich langsam um den rotierenden Siri. Sie schlang sich um seinen Hals, und er konnte sich nicht wehren. Immer fester und fester drückte sie zu, bis er kaum noch Luft bekam. Er zerrte an der dicken, geschuppten Haut seiner Angreiferin, aber es half alles nichts. Japsend rang er nach Atem. Er sank auf die Knie und spürte, wie sich die Haut um seinen Schädel straffte.
    »Was, in drei Teufels Namen …?« Civilai war zurückgekommen, um seinen Freund zu holen. »Siri?« Er eilte zur Mitte des Rotunde und stürzte sich auf den blau angelaufenen Doktor. Siri fasste sich verzweifelt an den Hals.
    »Nimm sie weg«, keuchte er.
    »Was?«
    »Die …«

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