Briefe aus dem Gefaengnis
sich selbst auf alle anderen. Ich habe erlebt, wie Jukos zur größten russischen Körperschaft wurde. Und wenn dieser Konzern sich von der spätsowjetischen Zerrüttung auf das Niveau eines Weltgiganten mit einer Kapitalisierung von 40 Milliarden US-Dollar hat erheben können, dann in erster Linie infolge seiner Personalpolitik.
Wir wählten für alle Bereiche die besten und, wenn möglich, junge Leute unter 35 aus. Wenn wir wie der heutige Kreml stattdessen nach Kandidaten Ausschau gehalten hätten, die ihrem Chef treu in die Augen blicken und ihm die Aktentasche hinterhertragen, würde es Jukos längst nicht mehr geben.
Man muss nur die richtigen Kriterien für die Auswahl des Personals formulieren. Talente hatte, hat und wird Russland immer mehr als genug haben! Der Kreml wählt die Leute nach dem staatlichen Kriterium hundertprozentiger Loyalität und Lenkbarkeit aus, dabei ist ein tatkräftiger Mensch nie hundertprozentig lenkbar – das sind nur Stümper und habgierige Leute. Wenn man die Schleusen der vertikalen sozialen Mobilität öffnet, die Klügsten, Gebildetsten und damit auch, Ehrgeizigsten anheuert, wird es bei uns nicht an Professionalität mangeln. Ich finde das Kreml-Genörgel über das Problem, fähiges Personal zu finden, rührend:
Wir haben keine Fachleute, wir leiden, kommen um, sind aber auf keinen Fall gewillt, jemanden in unseren Kreis aufzunehmen, wir gehen lieber ein, als uns nach Fachleuten umzusehen, die nicht aus unserem Stall stammen!
Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Das nötige Personal gibt es und wird es geben. Ziehen wir die neuen Generationen zu kooperativer Mitarbeit heran, dann werden diese Generationen das Russland der Zukunft aufbauen. Und sich selbst werden diese Menschen der Zukunft schon nicht bestehlen.
Wenn man die ganze Zeit nur fürchtet, »bei erster Gelegenheit würde etwas geklaut«, kann es keine Bewegung nach vorn, keine Investitionen und keine Entwicklung geben.
Modernisierung als Rettung
Die heutige politische Elite Russlands sucht ihre Rettung in der Ablehnung der Modernisierung und verhält sich so, wie es in dem guten Witz der Breshnew-Ära heißt: Sie versuchen, einen auf dem Abstellgleis verrottenden Waggon in Schwung zu bringen, und tun, als hätten sie ein Ziel. Sie rufen: »Wo sind wir hier, in Bologoje oder in Popowka?« Doch niemand antwortet auf den Bahnsteigen, das Volk schweigt.
Ich bestreite nicht: Für viele Bürokraten und Nutznießer staatlicher Renditen ist ein solches Lebensmodell bequem. Aber Russland braucht ein wirkliches Modernisierungsprojekt. Das Land wird im neuen Jahrhundert sonst einfach nicht überleben können. Es wird den objektiven historischen
Herausforderungen nicht gewachsen sein. Die Konturen dieses Projekts sind schon jetzt deutlich erkennbar.
Michail Chodorkowski, Privatperson,
Straflager JaG 14/10
Linksruck III – Eine globale Perestroika
»Wedomosti«, 7. November 2008
Der Sieg von Barack Obama bei den Präsidentschaftswahlen in den USA ist nicht nur ein Machtwechsel in einem einzelnen Land, und sei es auch eine Supermacht, wir stehen an der Schwelle eines Paradigmenwechsels. Die Epoche, die Ronald Reagan und Margaret Thatcher vor dreißig Jahren eingeleitet haben, neigt sich dem Ende zu. Als Liberaler sehe ich einen Linksruck voraus.
Zufall und Notwendigkeit
In letzter Zeit wird mir immer häufiger die Frage gestellt, ob ich der Meinung sei, der Kreml beherzige die Vorschläge meiner Artikel »Linksruck I« und »Linksruck II«. Die Fragesteller erwähnen sowohl die »vorrangigen nationalen Projekte« als auch die »Linksfärbung« der offiziellen Rhetorik und sogar mein »Programm 2020« (zu dem ich vor drei Jahren einige Thesen entwickelt habe).
Da die Standardreaktion unserer mächtigen Bürokratie auf meine Ideen ohnehin die Isolationshaft ist, will ich versuchen, über die Zeitung »Wedomosti« zu antworten. Im Voraus danke ich jenen, die mir geholfen haben, diesen Artikel vorzubereiten.
Tatsächlich sind in den vergangenen drei Jahren bestimmte
Veränderungen in der russischen Innenpolitik eingetreten. Wenn auch nicht in ausreichendem Maße. Das liegt natürlich nicht an mir. Sondern daran, dass die Regierung gezwungen war, die Logik des Linksrucks als objektive Anforderung der Realität an die herrschende Elite anzuerkennen. Der Rohstoffboom hat die Notwendigkeit einer Überwindung der himmelschreienden Kluft zwischen dem demonstrativ zur Schau gestellten Konsum der Elite und der
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