Briefe aus dem Gefaengnis
niederschmetternden Armut im restlichen Russland offenbar gemacht. Und wenn der Staat überleben will, sind Verantwortung der Eliten und die Notwendigkeit langfristiger Planung eine höchst aktuelle Aufgabe.
Der Kreml hat nach dem Erscheinen der beiden Artikel bestimmte Schritte im sozialwirtschaftlichen Bereich unternommen, die man unabhängig von der allgemeinen Einschätzung der heutigen russischen Regierung nur begrüßen kann. Allerdings muss man zugeben, dass diese Schritte nicht aus Einsicht der Machthaber in die Notwendigkeit einer neuen Entwicklungsstrategie geboren waren, sondern die Summe widersprüchlicher Reaktionen des Kreml auf Herausforderungen von außen darstellten, von denen die wichtigste die Gefahr sozialer Instabilität war, besonders nach den Revolutionen in den anderen postsowjetischen Ländern.
Die Anzeichen für die Krise der russischen Wirtschaft zeigen heute, dass das »reaktive Modell« nach der Logik des alten russischen Sprichworts, »Solange der Blitz nicht eingeschlagen hat, bekreuzigt sich der Bauer nicht«, nicht lange funktionieren wird. Die systemimmanenten Probleme und Ursachen möglicher Krisen müssen lange, bevor diese Probleme kritisch für das Land werden, erkannt werden.
Mit anderen Worten, man muss sich darüber im Klaren sein, an welchem Punkt wir uns befinden, wohin uns der historische Weg führt, was uns hinter den ersten Kurven dieses Weges erwartet und wie wir heute die Probleme anpacken wollen, die sich erst morgen oder übermorgen voll auswirken werden.
Das war ja das eigentliche Thema meiner beiden »Linksruck«-Artikel vor drei Jahren. Zur Verwunderung einiger Leute haben sich die Prognosen und Einschätzungen, die ich in diesen Artikeln formulierte, bewahrheitet.
Heute steht die ganze Welt an der Schwelle zu einem Linksruck. Der Beweis dafür sind der Triumph von Obama und die weltweite Finanzkrise. Und diese ist trotz des übertriebenen (und wahrscheinlich durchaus ehrlich gemeinten) Optimismus vieler unserer hohen Beamten zu einer durchaus heimischen, russischen Krise geworden. Wie zu erwarten, in akuter und schwerer Form vorläufig noch im einigermaßen überschaubaren Segment der Fonds. Ich halte an dieser Einschätzung fest, obwohl mir die Entwicklungen bekannt sind, die sich im sozialen Bereich und in Branchen des Realsektors wie der Metallurgie, dem Bauwesen, der Automobilindustrie und so weiter abzeichnen. Die Anzeichen sind zwar bedrohlich, aber bisher nur die Vorboten einer Rezession.
Ob die Wirtschaftskrise sich kurzfristig ausbreitet und vertieft, hängt vom Sachverstand der Finanzbehörden ab. Die mittel- und langfristigen Folgen dagegen liegen außerhalb von deren Reichweite.
Die Krise: Ursachen und Kennzeichen
Führende Politiker, Experten und Unternehmer sind sich in der Einschätzung der Ursachen für die globale Krise einig, als da wären:
– Das zunehmende Versagen der Systeme staatlicher Regulierung in den letzten zehn Jahren. Die große Diskrepanz zwischen dem globalen Charakter der wichtigsten wirtschaftlichen Prozesse und dem lokalen Charakter der Regulierungssysteme, die sich bei internationalen Erschütterungen als labil und anfällig erwiesen, ist eklatant. In einer globalen Wirtschaft müssen auch die Regulierungsmechanismen global sein, was sie heute aber nicht sind.
– Die Kluft zwischen »Verantwortung« und »Entscheidungsbefugnis«, die sich schon vor anderthalb Jahrzehnten aufgetan hat und die seitdem immer tiefer wurde, bis sie die ersten Opfer der Krise verschlang. In der neoliberalen Wirtschaft sind die Entscheidungen immer mehr an supra- und transnationale Strukturen übergegangen (in erster Linie an Körperschaften, aber auch an den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank), die Verantwortung für die sozialen Folgen der Entscheidungen aber mussten nach wie vor die nationalen Regierungen und die Steuerzahler tragen.
– Das Diktat der Portfolioinvestoren im globalen Wirtschaftssystem. Wir sind es gewohnt, die Welt aus der Perspektive des Investors zu betrachten, das heißt wir bewerten die unterschiedlichsten Prozesse, Probleme und Risiken ausschließlich im Hinblick darauf, »wie sich das auf die Finanzmärkte auswirken wird«, die von Natur
aus kurzsichtig und hysterisch sind (also dazu neigen, sprunghaft von begeisterter Verliebtheit zu abgrundtiefer Abneigung zu wechseln, häufig ohne jede Analyse der Hintergründe). Dadurch haben sich hinter der Fassade (lange) florierender Märkte Risse gebildet, die
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