Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
keinen menschlichen Namen besaß.
»Gott steh uns bei, dass sie es glauben. Sie haben den Fall vor ihr Sippengericht gebracht, und der caput gentis hat Wethen, den Sohn des Maclovius, als Richter auserkoren, folglich kann dein Wort sein Urteil nicht anfechten. Du musst dir etwas einfallen lassen, was du ihnen erzählst, Madrun. Sie haben die Macht, dich ertränken zu lassen; ist dir das klar?«
Sie schaute zu Ambros, und einen Lidschlag lang sah sie vor ihrem geistigen Auge Mondlicht, das auf einem Waldbach funkelte. Dann verfinsterte sich das Bild. »Ich erinnere mich nicht…«
Ambros, der einen seiner ruhigen Tage hatte, saß auf dem Schoß seiner Mutter und beobachtete die Szene mit Augen so strahlend und dunkel wie die eines jungen Vogels. Obwohl der Himmel sich wolkenverhangen zeigte, war das Gericht auf der Weide hinter dem Herrschaftssitz des Königs zusammengetreten, dem einzigen Ort, der groß genug war, um Platz für so viele Leute zu bieten. Das Volk bildete einen tuschelnden Kreis. Auf der Insel Mona, so wurde gemunkelt, habe eine Kuh ein zweiköpfiges Kalb geworfen. In Londinium sei Vitalinus, der daran verzweifelt war, aus den Männern des Südens und Ostens Britanniens eine Streitmacht zu formen, der uralten Tradition Roms gefolgt und habe sächsische Söldner von jenseits des Meeres angeheuert.
Ein feuchter Wind bauschte Schleier und Mäntel. Madrun schauderte. Einst, dachte sie, hatte es jemanden gegeben, der sie beschützte – eine mächtige Gestalt, die ihr Wärme und Geborgenheit vermittelte.
Wethen, Sohn des Maclovius, ließ sich auf einer Bank auf dem Hügel nieder. Sein Gewand war weiß, der Umhang hingegen in bunten Farben gewoben, was seinem Recht als Gesetzeskundigem entsprach. Er glättete die Gewänder, auf dass sie umso erhabener wirkten, und räusperte sich.
»Ich rufe Madrun, Tochter des Carmelidus, vor dieses Gericht!« Seine geübte, volltönende Stimme erklang klar und deutlich, und Madrun spürte, wie Ambros den Leib verspannte, während er aufmerksam lauschte.
Sie versuchte zu sprechen, konnte jedoch nicht. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit war ihr wohlbekannt – auch damals war es nutzlos gewesen, sich zu wehren. Sie schüttelte nur den Kopf und fühlte, wie ihr Bewusstsein davonglitt wie ein unvertäutes Boot, das mit der Strömung flussabwärts treibt.
Vater Blasius, der neben ihr stand, antwortete an ihrer statt. »Sie ist hier.«
Wethen nickte. »Wer klagt sie an?«
Einer der Bauern trat vor. »Ich beschuldige die Tochter des Carmelidus des malefidum, weil sie sich willig dem Teufel hingab, um sein Kind in die Welt zu setzen, das seither den Lauf der Natur beeinflusst und uns eine Katastrophe nach der anderen beschert!«
Aufgeregtes Murmeln zog durch die Menge; alle Augen richteten sich auf Madrun.
»Das sind zwei Beschuldigungen!«, rief Vater Blasius aus. »Ich kann Zeugen vorbringen, die bestätigen, dass ihr Kind auf gewöhnliche Weise geboren und ordnungsgemäß getauft wurde, als es drei Tage alt war. Die braven Nonnen von Sankt Peter haben ihn aufwachsen und keinerlei Hexerei vollführen gesehen. Wenn das Wetter schlecht war, ist das keineswegs sein Werk. Habt ihr denn noch nie Katastrophen erlebt, wenn es kein Kind gab, dem man die Schuld dafür zuschieben konnte? Gott hat euch dies wegen eurer Sünden auferlegt, nicht wegen seiner!«
Diesmal ertönte das Gemunkel lauter, und ein- oder zweimal hörte Madrun Gelächter.
»Das mag wohl sein«, räumte der zweite Bauer ein. »Aber es spricht Madrun nicht von ihrem Verbrechen frei. Ob der Vater nun Dämon oder Sterblicher war, sie hat Unehre über ihre Sippe gebracht, indem sie ein namenloses Kind gebar.«
»Es trägt den Namen, auf den es getauft wurde«, widersprach Vater Blasius, »der da lautet Ambrosius, nach dem Kaiser.«
»Und wo bleibt der Rest? Wessen Sohn ist er?«
»Er ist das Kind der Nonne. Dem Volk des Nordens, dem die Mutter dieses Mädchens entstammt, hätte das gereicht.«
»Aber dies ist Demetia, und wir halten uns an unsere eigenen Gesetze«, gab der Richter zu bedenken. »Wenn die Liederlichkeit eines Mädchens der Sippe ihr Volk entehrt, dann bringt die einer Tochter eines Königs Schande über das gesamte Königreich, und sie muss die Strafe dafür bezahlen.«
»Wirst du auch deine Mutter töten?«
Die Frage erklang mit klarer, piepsender Stimme, die bis an den Rand der Menge gehört wurde. Nur langsam erkannten die Menschen, dass die Quelle der Worte das in den Armen der
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