Brombeersommer: Roman (German Edition)
die elf Männer, die schon barfuß am Rand der Grube standen. »Du hast sowieso keine Übung im Schießen«, sagten die anderen zu Karl. »Oder willst du doch mal?« Er ging in den Unterstand, eine halb abgebrannte Bauernkate, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Das Mädchen sah in den Himmel hinauf, bevor sie in die Grube stürzte, als könne ihr von da oben Hilfe kommen.
An jenem Abend konnte Karl nichts essen. »Was ist denn?«, fragte der Offizier. »Warum isst du denn nicht?«
Karl hatte gesagt, ihm sei übel, es sei nicht richtig, was sie machten, es sei grausam und unnötig. Dass Krieg sei, sei doch schon schlimm genug. Er habe die Nase voll von diesem sinnlosen Abschlachten.
Martin Imrod hatte ihn entsetzt angesehen. Mensch, was machst du da?, schien sein Blick zu sagen.
Sie verpassten ihm einen Denkzettel wegen Zersetzung des Wehrwillens. »Du hast Glück, dass ich dich mag«, sagte der Offizier. »Auf das, was du da sagst, steht die Todesstrafe, du Idiot.«
Karl spürte noch die Gewehrkolben in den Nieren, nachdem sie ihn in den Arrest gestoßen hatten. Die Nieren waren seine schwache Stelle, seit er sich im letzten russischen Winter eine schwere Nierenbeckenentzündung geholt hatte. Im Arrest gab es keine Pritsche, der Steinboden wurde nachts auch im Sommer empfindlich kalt. Als sie ihn wieder rausholten, mussten sie ihn ins Lazarett bringen.
»Na also«, sagte Hermann Gronau, als er die Urinflasche inspizierte. »Wird doch. Kommt doch raus, das Zeug. In ein paar Tagen bist du wieder auf dem Damm. Viola soll dir eine Brühe kochen, du brauchst jetzt was Warmes. Ich sage ihr Bescheid.«
»Danke«, sagte Karl. »Aber das Morphium will ich nicht mehr haben das nächste Mal. Das Aufwachen aus den süßen Träumen ist zu schrecklich. Man will nur noch in den Traum zurück, Hermann, sonst nichts.«
Seine Mutter und Viola versorgten ihn abwechselnd. Für Tage tat Karl nichts anderes als trinken, essen, schlafen.
Während er langsam genas, wurde die Mansarde zu einem Ort, an dem er sich geschützt und geborgen fühlte und aus dem die bösen Worte, die zwischen Edith und ihm gefallen waren, langsam wichen. Die Wohnung, die sie gemeinsam bezogen hatten, gehörte jetzt nur noch ihm. Karl entdeckte die stärkenden Seiten des Alleinseins wieder. Die alten Momente melancholischer Heiterkeit blitzten auf, wolkenleicht und flüchtig. So hatte ein Graphologe seine Schrift einmal beurteilt: sich verflüchtigend. Wenn er so gestimmt war, liebten ihn die anderen. Aber er war nur so, wie sie ihn mochten, wenn er genug Einsamkeit hatte. Eine Frau würde er immer enttäuschen. Auf einer Wolke kann man kein Haus bauen. Edith hatte es begriffen und ihre eigenen Schlüsse gezogen.
Nachdem es ihm gesundheitlich wieder besser ging, verkroch sich Karl für einige Zeit in seinen vier Wänden. Kaum, dass er mal ins Theater oder mit wandern ging. »Ich lese viel«, sagte er. Was Martin konnte, konnte er auch. Er entdeckte Hermann Hesse, las Heinrich Böll, hatte einen Narren an Wolfdietrich Schnurre gefressen und vergrub sich in Wolfgang Koeppens Roman »Tauben im Gras«. Je mehr er das Lesen entdeckte, umso hungriger wurde er danach.
In vielen dieser nach dem Krieg entstandenen Texte fand er sich wieder. Es tröstete ihn, Stimmen zu finden, die seine Gedanken aussprachen. Er hatte immer gedacht, seine Einsamkeit könne niemand teilen, nicht in der Weise, wie er sie empfand. Jetzt belehrte ihn die Literatur eines Besseren. Und diese Entdeckung verdankte er bittererweise Edith.
Karl litt unter der Trennung, aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er dafür nicht einfach Edith die Schuld geben konnte. Unter anderen Bedingungen wäre ihre Beziehung vielleicht längst vor der Heirat auseinandergegangen. Eigentlich waren sie einander nie mehr so nahe gekommen wie in Neuhausen. Zwei Puzzleteile, die, vom Krieg verformt, nicht mehr zusammenpassten.
Trotzdem saß der Schmerz tief. Karl hatte das Gefühl, versagt zu haben.
Wenigstens hatte Viola ihn überreden können, dass er abends zu ihnen zum Essen kam. »Er muss doch einmal am Tag was Warmes kriegen«, sagte sie zu Theo, »er sieht ja wieder so schlecht aus wie nach dem Krieg.«
»Du übertreibst«, antwortete Theo. »So schlecht sieht er nun auch wieder nicht aus. Aber klar soll er zum Essen kommen. Wir kriegen ihn schon wieder hin.«
30
Der Jahreswechsel 1952 / 53 war der erste, den sie nicht mehr zu viert, sondern zu dritt
Weitere Kostenlose Bücher