Brombeersommer: Roman (German Edition)
glücklich sei mit Edith, ob sie Kinder hätten. Sie selbst habe geheiratet gegen Ende des Krieges, aber die Ehe sei gescheitert. Sie habe das Kriegsende in Berlin erlebt, unter den Russen, wie Annegret auch. »Irgendwie sind mein Mann und ich uns nicht mehr richtig nahegekommen, als er aus der Kriegsgefangenschaft heimkam, obwohl wir uns so freuten, wieder zusammen zu sein.«
Karl ließ den Brief sinken. Er wusste von den Vergewaltigungen durch die Russen. Ob Inge darauf anspielte? Edith hatte nie viel von der Flucht erzählt. Nur immer wieder von dem zerbrochenen Einmachglas und der Himbeermarmelade, die auf der Erde gelandet war. Wie sie die klebrigen dicken Spritzer von ihrem Mantel geleckt und mit dem Löffel die Reste aufgekratzt hatte. Und von der Kälte hatte sie gesprochen. Er wusste nicht einmal genau, auf welchem Weg sie in den Westen gelangt war.
Und Edith hatte auch nicht viel davon wissen wollen, was er im Krieg gemacht hatte. Sie redete von Tante Gertrud und der Wohnung, die sie wollte, dem Klavier, das sie nicht hatte, und dem Heimweh nach ihrer Familie, aber sie hatte nie gefragt, was er eigentlich in Russland erlebt hatte, in Polen, in der Slowakei. Er hatte kaum darüber gesprochen, weder mit ihr noch mit anderen. Aber die Bilder waren geblieben. Nein, man erzählte wenig und hatte Angst, welche Antworten man bekäme, wenn man selbst die anderen fragen würde. Jeder hatte mit seinen eigenen Erinnerungen zu tun. Verstehen konnten einen, wenn überhaupt, nur die Kameraden. Vielleicht erging es den Flüchtlingen genauso. Nur Flüchtlinge konnten Flüchtlinge verstehen. Und Verschüttete Verschüttete. Was machten sie nur alle mit ihren Erinnerungen?
Karl wollte Inges Brief gleich beantworten, ehe er es sich anders überlegen würde. Die Vorstellung, Jan in einer psychiatrischen Anstalt zu besuchen, erschreckte ihn mehr, als es der Tod des Kameraden getan hätte. Er holte ein Blatt Papier aus der Scheibtischschublade und kündigte Inge seinen Besuch an.
»Du wirst ja wissen, was du tust«, sagte Viola kurz angebunden.
»Was meinst du damit?«, fragte Karl verwundert. »Jan ist ein alter Kamerad. Ich will ihn wiedersehen. Auch wenn ich ihn lieber woanders als in einem Irrenhaus besuchen würde.«
»Wohnst du dann bei Inge?«, fragte Viola beiläufig. Sie band die Schürze um und wandte sich dem Herd zu. Karlnahm sie an den Schultern und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, aber Viola schob ihn weg. »Holst du eine Flasche Selters aus dem Keller? Besser zwei oder drei, dann muss ich nicht gleich wieder runterrennen.«
»Ob ich bei Inge wohne? Ja. Sie hat mich so nett eingeladen.«
»Erzähltest du nicht, dass sie in dich verliebt war? Das passt doch, du bist gerade geschieden, und ihre Ehe ist auch gescheitert. Ich wünsch dir jedenfalls alles Gute.« Sie öffnete hastig das Küchenfenster.
»Stell doch mal die Kartoffeln kleiner«, sagte Karl, »das Wasser sprudelt ja wie verrückt.«
»Das sehe ich selbst. Holst du das Wasser? Theo muss gleich kommen, in zehn Minuten können wir essen.«
»Ja, mache ich gleich. Aber sage mir zuerst, warum ich nicht bei Inge wohnen soll? Das ist doch Jahre her, seit sie mal in mich verliebt war. Dreizehn Jahre.«
»Das hast du ja ganz genau ausgerechnet.«
»Ach, Viola … Soll ich sonst noch was aus dem Keller hochbringen?«
»Ich hatte einen anstrengenden Tag im Theater«, sagte Viola, »und einen Haufen Ärger. Aber das Müdesein nach der Arbeit ist ja den Männern vorbehalten. Die Frauen freuen sich stattdessen aufs Kochen.«
»Hmh«, feixte Karl, »wie Dr. Oetker sagt: ›Eine Frau hat im Leben zwei Probleme. Was ziehe ich an? Was koche ich?‹«
Aber Viola lachte nicht.
Es schellte zweimal kurz, einmal lang, die Tür ging auf, Theo kam herein, legte seinen Hut auf die Garderobe,stellte die Aktentasche gegen die Wand und wollte eben die Schuhe ausziehen.
»Dicker, lass mal die Schuhe an. Wir gehen heute auswärts essen. Ich lade euch zur Witwe Tönnemann ein, die macht wunderbare Speckpfannkuchen. Mit Böhnchensalat. Oder wollt ihr lieber in ein besseres Restaurant?« Entschieden stellte er das Gas unter den Kartoffeln ab.
»Da kannst du dann morgen Bratkartoffeln draus machen.« Er nahm Viola beim Arm und wollte sie sanft aus der Küche ziehen, aber sie schubste ihn weg, nahm schweigend die weißen, von Helene Matussek gehäkelten und veilchenblau umrandeten Topflappen und goss das Kartoffelwasser ab.
»Wenn du meinst«, sagte sie
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