Brombeersommer: Roman (German Edition)
nahm ein Hotelzimmer und reiste am nächsten Tag gleich nach der Verhandlung wieder ab.
Karl drückte ihr vor dem Gerichtsgebäude zum Abschied die Hand. Edith weinte. Sie sah so hilflos aus wie im Herbst 1946, als sie sich auf dem Bahnsteig wiederbegegnet waren. Wie sehr hatte er sich damals gewünscht, dass ein warmer, sonniger Tag sie in ihrer neuen Heimat begrüßt hätte. Jetzt schien die Sonne. Plötzlich kam ihm das japanische Gedicht in den Sinn, das er ihr mitten aus dem Krieg 1943 voller Sehnsucht abgeschrieben und aus dem Feld geschickt hatte.
Trotz
aller Hindernisse,
die dem eilenden Flusse
entgegentreten:
Alle Wasser,
die sich trennen,
um Bänke und
Riffe herum
strömen doch
endlich, endlich
wieder jubelnd
zusammen
»Alles Gute«, sagte Karl und nahm Edith kurz in den Arm. Dann ging er, ohne sich noch einmal umzusehen.
37
Doch, der Name sagte ihm was. »Inge Knopp (geb. Althaus)« stand auf dem Absender des Briefes aus Hannover, der wenige Tage nach seiner Scheidung im Briefkasten lag. Etwas merkwürdig, auf dem Absender in Klammern den Mädchennamen anzugeben, fand er. Langsam kam die Erinnerung zurück. Berlin. Berlin im Krieg. Inge. Inge, natürlich!
Er war unter dem Dach angekommen und schloss die Mansarde auf. Wollte sich Tee machen, stellte den Kessel wieder hin, riss stattdessen den Brief auf und warf den leeren Umschlag in Simons Papierkorb. Zog ihn sofort wieder heraus, glättete ihn und prüfte, ob man den Absender auch noch erkennen konnte. Bevor er den Brief las, holte er die Schachtel mit den Fotos hervor. Zu viel Edith fand sich da, hier und da Viola, Theo, seine Schwestern. Weiter unten, lange nicht hervorgegraben, mussten die Bilder von Jans Hochzeit in Berlin sein. Zusammen waren sie von Neuhausen dorthin gereist, Karl sollte Jans Trauzeuge sein, und Inge Althaus war die Trauzeugin der Braut.
Karl sah sie wieder vor sich, ein schlankes Mädchen in einem hellen Sommerkleid, mit einem Volant am Rock und Rüschen am Ausschnitt. Sie hatte Locken wie Edith, aber ihre Augen waren weniger dunkel und ausdrucksvoll. Ein hübsches, fröhliches Mädchen, das leicht zu unterhaltenwar. Er tanzte nicht besonders gern, aber Inge hatte ihn immer wieder zur Tanzfläche gezogen. Sie lehnte sich an ihn, leicht und unaufdringlich, und er spürte schnell, dass er ihr gefiel.
Karl erinnerte sich nicht mehr, warum Edith nicht mit zu der Hochzeit nach Berlin gekommen war. Jedenfalls hatte er Inge bald vergessen, obwohl sie ihm mehrmals nach Neuhausen geschrieben und ihn immer wieder eingeladen hatte, sie doch in Berlin zu besuchen, wenn er auf Urlaub nach Hause fahre.
Einmal hatte Karl Inge dann tatsächlich wiedergesehen, als er einige Tage Fronturlaub hatte. Sie holte ihn am Bahnhof ab, und sie setzten sich in ein Restaurant. Inge sah reizend aus, aber er wollte ihr nichts vormachen. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als er von Edith und seiner bevorstehenden Verlobung erzählte. »Ach so«, sagte sie nur und vermied es, ihn anzusehen, holte eine Puderdose aus der Handtasche und puderte sich die Nase; Lippenstift war ja verpönt bei der deutschen Frau, aber er bemerkte, dass sie die Lippen doch ein wenig mit einem hellen, dezenten Rosa angemalt hatte. »Du bist sehr hübsch«, sagte er und nahm ihre Hand. »Ich mag dich sehr, aber da ist nun einmal Edith, und ich will dich nicht anlügen.« Sie nickte und sah angelegentlich in ihr Glas mit Berliner Weiße, als müsse am Boden des Glases gleich etwas Spannendes geschehen. Sie tat ihm leid. Auf keinen Fall wollte er, dass sie ihn zum Bahnhof brachte.
Er legte das Foto von Jans Hochzeit aus der Hand und begann, Inges Brief zu lesen. Die zwei Seiten waren dicht beschrieben. Ihre Handschrift war groß und etwas ungelenk,nicht viel anders als vor Jahren. Merkwürdig, dabei war sie eine so zierliche Person.
Jan sei heimgekehrt, schrieb sie, ob er sich erinnere – sie beide seien 1940 Trauzeugen von Jan und Annegret gewesen. »Jan hätte sich sicher direkt bei Dir gemeldet, aber es geht ihm schlecht. Er ist jetzt in einer psychiatrischen Anstalt, weil Annegret einfach nicht mehr mit ihm zurechtkommt.« Mein Gott, dachte Karl, das ist schlimmer als der Tod.
Vielleicht wolle er, schrieb Inge weiter, den alten Freund ja einmal besuchen. Karl könne gern bei Annegret oder ihr übernachten, wenn er käme. Annegret wohne allerdings sehr beengt, bei ihr, Inge, gebe es mehr Platz, und sie würde sich freuen, ihn wiederzusehen. Ob er
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