Brombeersommer: Roman (German Edition)
seinem Vater gern gesagt, die er akzeptiert und befolgt hatte als Sohn, als Pimpf, als Hitlerjunge, als Soldat, waren eine unerträgliche Bürde. »Ich habe nicht gesagt, dass Edith nicht recht hat«, gab er stattdessen zur Antwort. Er spürte den Drang zu flüchten, irgendeinem weiten Horizont entgegen, wo das Himmelsblau in den grünlich kühlen Ton des sich ankündigenden Abends überging. Sich auflösen, einfach auflösen. »Ich habe nur gesagt, dass ich mit Theo und Viola in die Ferien fahre.«
Sie waren beide stur.
Karl sah die Ader an der linken Schläfe seines Vaters anschwellen. Es war die gleiche Stelle, die bei ihm hervortrat, wenn er Kopfschmerzen hatte. Als Junge war er zusammengezuckt, wenn er das bemerkte. In der Schlosser-Lehrwerkstätte der Bahn, die Heinrich Osterloh leitete, hatte niemand je dem Vater widersprochen. Zu Hauseauch nicht. Heute schlug sein Vater nicht mehr zu. Aber trotz aller Bemühungen war aus seinem Sohn kein Held geworden, dachte Karl.
Ja, er war begeistert gewesen von dem großen Fackelzug durch die Innenstadt zur Feier der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, zu dem der Vater ihn mitgenommen hatte. Er war überhaupt begeistert gewesen. Dass er aber Angst hatte vor den bewaffneten »nationalsozialistischen Kampfeinheiten«, die schon kurz nach dem Fackelzug in den Straßen patrouillierten, hatte er dem Vater lieber verschwiegen. Sein Vater war ja schon außer sich gewesen, als Karl sich mal den Arm gebrochen hatte. Sein Sohn! Bricht sich den Arm! Und nie stand sein Sohn auf den Klassenfotos stramm in der ersten Reihe, sondern immer weiter hinten, an der Seite. Stimmt, er war den anderen Jungen meistens aus dem Weg gegangen. Viele von ihnen erschienen ihm bedrohlich, wie der Vater auch.
»Ist schon gut, mein Junge«, sagte Selma Osterloh mit einem kaum hörbaren Seufzen, als Karl sie zum Abschied umarmte. »Vater macht sich nur Sorgen um deine Zukunft.«
Zukunft, dachte Karl. Was soll das denn für eine Zukunft werden, wenn sich keiner Sorgen wegen der Vergangenheit macht.
43
Der alte Schulze, Theos Vater, hatte tatsächlich einen Lloyd 300 angeschafft. Ein Volkswagen hätte ihm besser gefallen, aber einer seiner alten Freunde war in eine Lloyd-Vertretung eingestiegen, und Schulze bekam Prozente. Einen gebrauchten Olympia Rekord, den ein anderer Bekannter ihm andrehen wollte, hatte er ohne zu zögern abgelehnt. Opel und General Motors, nein danke. Mit den Amerikanern wollte er nichts zu tun haben, egal, wie ringsum jetzt die amerikanische »Kultur« nachgeäfft wurde. Aber Autos, das gab er zu, das war ein Geschäft mit Zukunft, auch wenn das Geld aus Amerika kam.
Ludwig Schulze war nicht mehr in den Schuldienst zurückgekehrt. Aber er hatte inzwischen eine recht gut bezahlte Stelle im Unternehmen eines Freundes gefunden. »Nach Italien willst du?«, fragte er seinen Sohn. »Alte Kriegserlebnisse auffrischen, was?« Er lachte abschätzig. »Da ist nicht viel Rühmenswertes zu holen. Die waren doch Schwächlinge, die Italiener. Ich habe sie hier erlebt, da muss ich nicht nach Italien für. Waren ja hier in der Stadt, als Arbeiter. Nach dem italienischen Waffenstillstand mit den Alliierten kamen sie zu den Kriegsgefangenen, da gehörten sie auch hin. Feine Verbündete waren das. Da war nichts Grades dabei, bei denen.« Er öffnete einen Knopf seiner grauen Strickweste.
»Ja«, antwortete Theo knapp, »wir wollen nach Italien, Karl, Viola und ich.«
»Und warum erzählst du das?«, fragte der alte Schulze argwöhnisch. »Doch nicht, weil du mich fragen willst, ob ich dir das Auto leihe?«
»Nein«, entgegnete Theo, »weil Mutter mich gebeten hat, mal wieder vorbeizukommen, und gefragt hat, was ich so mache.«
Käthe nickte. »Aber dass ihr immer so zu dritt unterwegs sein müsst«, sagte sie. »Ihr könntet lieber mal Siegfried mit in die Ferien nehmen.«
»Na, auf jeden Fall solltet ihr einen Dreisitzer haben, diese Heinkel Kabine zum Beispiel. Da können drei nebeneinandersitzen. Wie heißt noch der Werbespruch, Käthe?«
»Der dritte Mann sitzt nebenan«, soufflierte Theos Mutter.
44
Viola war müde. Sie hatte aufgehört, die Überstunden zu zählen, die sie für »Wie es euch gefällt« gemacht hatte. Aber morgen war Premiere, ihre Arbeit war getan. Sie gähnte, verließ das Theater, warf einem kriegsblinden Bettler ein paar Münzen in seine Blechdose und hörte dem Leierkasten nach, dessen »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn« aus einem
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