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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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letzten anzuziehen, stellte sie sich ungeschickt an und steckte den Fuß durch die falsche Öffnung. Sie musste sich bücken, um den Badeanzug aufzuheben, und musste beide Hände benutzen, um ihn richtig anzuziehen. Noch nie hatte jemand sie so nackt gesehen; sie wusste nicht, wie ihre Brüste wirkten, ob die Größe ihrer Brustwarzen oder die dunkle Farbe um sie herum ungewöhnlichwaren oder nicht. Ihr war zuerst ganz heiß vor Verlegenheit, und dann fror sie beinah. Sie war erleichtert, als sie den Badeanzug anhatte und sich ein weiteres Mal aufrichtete, um von Miss Fortini begutachtet zu werden.
    Eilis fand nicht, dass sich die Badeanzüge sehr voneinander unterschieden; sie wollte ganz einfach weder den schwarzen noch den rosafarbenen, aber da ihr die anderen beide passten und sie farblich überhaupt nicht extravagant waren, wäre ihr jeder recht gewesen. Als Miss Fortini daher vorschlug, sie sollte beide noch einmal anprobieren, bevor sie sich endgültig entschied, lehnte Eilis ab und sagte, beide gefielen ihr und sei es ihr gleichgültig, welchen sie nehme. Miss Fortini sagte, sie würde sie am nächsten Morgen alle mit einem Briefchen an ihre Freundin im anderen Kaufhaus zurückschicken und Eilis könnte in der Mittagspause selbst hingehen und den kaufen, für den sie sich entschieden hätte. Ihre Freundin, sagte Miss Fortini, würde schon dafür sorgen, dass sie einen guten Preisnachlass bekam. Als Eilis fertig angezogen war, schaltete Miss Fortini alle Lichter aus, und sie verließen das Geschäft durch einen Seiteneingang.

    Eilis versuchte, weniger zu essen, aber es war nicht leicht, da sie nicht einschlafen konnte, wenn sie hungrig war. Wenn sie sich im Badezimmer im Spiegel anschaute, fand sie nicht, dass sie zu dick war, und wenn sie den Badeanzug anprobierte, den sie ausgewählt hatte, machte sie sich weit mehr Sorgen, weil ihre Haut so blass war.
    Eines Abends, als sie von der Arbeit heimkam, fand sie in der Küche einen an sie adressierten Brief auf dem Beistelltisch. Es war ein offizielles Schreiben vom Brooklyn College, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie die Prüfungen für das erste Jahr in allen Fächern bestanden habe und wenn sie ihre Noten im einzelnen erfahren wolle, sich an das Sekretariat wenden könne. Man hoffe, hieß es weiter, sie komme im nächsten Studienjahr, das im Septemberbegann, zurück, dann folgte die Frist, innerhalb deren sie sich einschreiben sollte.
    Es war ein schöner Abend. Sie beschloss, das Abendessen ausfallen zu lassen und einen Spaziergang zum Gemeindehaus zu machen und Father Flood den Brief zu zeigen. Nachdem sie zwei Zeilen für Mrs. Kehoe geschrieben und das Haus verlassen hatte, fiel ihr auf, wie schön alles war: die begrünten Bäume, die Menschen auf der Straße, die spielenden Kinder, das Licht, das auf den Gebäuden lag. So hatte sie sich bis dahin in Brooklyn noch nie gefühlt. Der Brief hatte ihr Auftrieb gegeben, ihr ein neues Gefühl von Freiheit geschenkt, und das war etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie freute sich darauf, ihn, falls er zu Hause war, Father Flood und dann, wenn sie ihn wie verabredet am nächsten Abend sehen würde, Tony zu zeigen und anschließend Rose und ihrer Mutter die Nachricht zu schreiben. In einem Jahr wäre sie eine geprüfte Buchhalterin und konnte anfangen, sich eine bessere Arbeit zu suchen. Im Laufe des Jahres würde es heißer und unerträglich werden, und dann würde die Hitze vergehen, die Bäume würden die Blätter verlieren und der Winter würde nach Brooklyn zurückkehren. Und auch der würde in den Frühling übergehen, und es käme der Frühsommer, mit langen sonnigen Abenden nach der Arbeit, bis sie wieder, wie sie hoffte, vom Brooklyn College einen Brief bekommen würde.
    Und in all ihren Träumen, in denen sie sich während des Gehens ausmalte, wie dieses Jahr werden würde, war Tony anwesend; sie stellte sich sein Lächeln vor, seine Aufmerksamkeit, seine lustigen Geschichten, seine Umarmungen an einer Straßenecke, den süßen Duft seines Atems, wenn er sie küsste, seine Arme um ihren Körper, seine Zunge in ihrem Mund. Das alles, sagte sie sich, gehörte ihr, und jetzt, mit diesem Brief, war es weit mehr, als sie sich je bei ihrer Ankunft in Brooklyn hätte vorstellen können. Sie musste sich zwingen, nicht mehr zu lächeln, damit die Leute auf der Straße sie nicht für verrückt hielten.
    Father Flood kam mit einem Stoß Papiere in der Hand an die Tür. Er führte sie ins Empfangszimmer im

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