Brown Sandra
Sie musterte sich kurz im Flurspiegel und öffnete dann die Tür.
»Jade …«
Sie wollte die Tür zuschlagen, doch Lamars Hand war schneller.
»Jade, bitte. Ich muß mit dir reden.«
Sie starrte ihn an. Ihr Brustkorb hob und senkte sich mit jedem Atemzug. »Verschwinde.«
»Bitte, Jade. Ich habe den ganzen Tag versucht, den richtigen Augenblick abzupassen, um mit dir zu reden.«
»Es wird nie einen richtigen Augenblick geben. Und ganz sicher nicht heute abend.«
Verzweifelt versuchte sie, die Tür zu schließen, doch Lamar zwängte sich dazwischen. »Gott, Jade, glaubst du, für mich war es einfach, hierherzukommen?«
»Das kann ich dir nicht beantworten, weißt du, ich habe nämlich noch niemanden vergewaltigt. Ich weiß nicht, ob es einfach oder schwer ist, später seinem Opfer gegenüberzutreten. Andererseits – du und deine Freunde, ihr hattet ja auch keine Skrupel, mich jeden Tag in der Schule zu sehen. Wenn ich es mir überlege, kann es nicht so schwer für dich gewesen sein, heute herzukommen.«
Er sah geknickt aus. »Egal was du sagst, ich weiß, ich habe noch Schlimmeres verdient. Ich kann nicht ungeschehen machen, was geschehen ist. Aber bitte, laß mich mit dir reden – ich brauche nur ein paar Minuten. Mehr verlange ich nicht.«
Sie ließ ihn hereinkommen – vielleicht, weil er zugegeben hatte, daß das, was damals am Kanal vorgefallen war, gegen ihren Willen geschehen war.
Lamar schloß leise die Tür hinter sich. »Wo ist Mrs. Hearon?«
»Oben.«
»Können wir uns irgendwo hinsetzen?«
»Nein.« Jade verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. »Sag jetzt, weshalb du hergekommen bist, Lamar.«
Er sah besser aus als zu High-School-Zeiten, war aber noch genauso unsicher. Er widersprach ihr nicht. »Jade, was wir mit dir getan haben …«
»Du meinst, daß ihr mich in den Schlamm geworfen, festgehalten und nacheinander vergewaltigt habt? Meinst du das?«
»O Gott«, stöhnte er.
»Offensichtlich ist deine Erinnerung an den Abend ziemlich verschwommen. Meine aber nicht. Neal hat mich ein paarmal geschlagen und mich angeschrien, ich solle still sein. Hutch war der gröbste. Er hat mir am meisten weh getan.«
Lamar wurde aschfahl in der schwachen Flurbeleuchtung.
Jade fuhr fort. » Du hast dich zwar erst ein bißchen geziert aber getan hast du es auch.«
»Ich hatte keine Wahl, Jade.«
»Ach – ich etwa? Welche Wahl hatte ich? «
»Was hätte ich denn tun sollen, wenn ich dagegen gewesen wäre? Neal und Hutch niederschlagen?« Er gab ein kurzes, bitteres Lachen von sich. »Klar, das hört sich jetzt ganz einfach an. Verstehst du das nicht?«
»Nein«, antwortete Jade mit böse funkelnden Augen. »Du hättest dich weigern können. Du hättest nicht mitmachen müssen. Du hättest mir helfen können. Du hättest aufstehen und bezeugen können, daß ich die Wahrheit gesagt habe.«
»Neal hätte mich umgebracht.«
»Du hast einfach danebengestanden und zugesehen, wie mein Ruf zerstört wurde. Kein Wort hast du gesagt, als Neal Gary verspottet und ihn schließlich in den Selbstmord getrieben hat.«
»Ich konnte nichts sagen, Jade. Ich mußte zu Neal halten. Es tut mir leid.« Tränen schimmerten in seinen Augen. »Du bist stark. Du warst immer stark. Alle haben immer zu dir aufgeschaut. Du weißt nicht, wie es ist, nur zwei Freunde zu haben.«
»Ich weiß, wie es ist, gar keine zu haben.« In den letzten Monaten auf der High School war Jade von allen, bis auf Patrice Watley, gemieden worden.
Lamar stammelte weiter Entschuldigungen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, unter Neals Fuchtel zu leben. Ich habe erst dieses Jahr den Absprung geschafft, und er hat mir die Hölle dafür heiß gemacht. Wir haben zusammen in diesem alten Haus gewohnt …«
»Das interessiert mich nicht.«
»Na ja, vor Ende des Semesters im Frühling bin ich da ausgezogen. Wochenlang hat er kein Wort mit mir geredet. Genau wie mit Hutch, als der Donna Dee geheiratet hat. Wußtest du überhaupt, daß sie geheiratet haben?«
»Die beiden passen zueinander.«
»Hutch war im Footballteam. Sogar darauf war Neal eifersüchtig. Hutch hat dann nach dem zweiten Jahr die Uni überraschend hingeschmissen und ist zur Navy gegangen. Neal meinte, daß er nur von Donna Dee weg wollte, weil sie ihm ständig mit einem Baby in den Ohren lag. Jetzt leben sie auf Hawaii, aber ich habe gehört, daß sie wieder zurückkommen. Hutch ist immer noch nicht Vater geworden.«
Vielleicht doch. Der Gedanke ließ Jade erschauern. »Bist du deshalb
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