Bruder Cadfaels Buße
der Reichsadler, auf den Maud nach dem Tod ihres ersten Gemahls keinesfalls hatte verzichten wollen, doch war er auf dem dunklen Tuch kaum zu sehen und würde in der Schwärze der Nacht nicht auffallen. Sofern es Olivier gelang, sich in der Dunkelheit des Turms und dem dortigen Durcheinander unauffällig unter die Verteidiger zu mischen, mußte er den Umhang von sich werfen, bevor er hinaustrat, damit jeder deutlich die Löwen auf dem hellen Tuch sehen konnte.
»Am liebsten wäre es mir natürlich, unerkannt hinauszugelangen«, sagte er, während er die breiten Schultern unter dem Gewicht des Kettenhemdes reckte und den Gürtel fester um die Hüften zog. »Ich brauche jeden Augenblick der Nacht und kann es mir nicht leisten, Zeit damit zu vergeuden, daß ich Rede und Antwort stehe.
So, mein Vater, wollen wir gehen und den Versuch wagen?«
Sorgfältig verschloß Cadfael die Tür zum Verlies, bevor sie die Wendeltreppe emporstiegen. An der Tür, die nach außen führte, legte er Olivier eine Hand auf den Arm und spähte vorsichtig in den Hof. Doch bis zum Bergfried hinüber lag der Hof verlassen. Nur die Schritte der Wächter auf der Mauer hallten fast unwirklich zu ihnen herab.
»Halte dich in meiner Nähe. Wir bleiben dicht an der Mauer, bis wir zu ihnen stoßen. Dann wähle deinen Augenblick - am besten wenn sich die Verteidiger in den Turm stürzen, um den nächsten Vorstoß abzuwehren.
Kein Lebewohl! Geh, und Gott sei mit dir!« l »Es wird kein Lebewohl sein«, erwiderte Olivier. Cadfael merkte, daß er nicht nur angespannt, sondern auch von einer geradezu fröhlichen Zuversicht war. Nach langer Haft drängte seine aufgestaute Kraft danach, sich zu entladen. »Du siehst mich morgen wieder, entweder in dieser oder in anderer Gestalt. Oft habe ich ihm die Feinde vom Leib gehalten, wie er mir. Mit Gottes und deiner Hilfe will ich ihm den Dienst auch dies eine Mal noch tun, ob ihm das recht ist oder nicht.«
Cadfael verschloß die Tür zum Turm und achtete darauf, daß alles so blieb, wie es gewesen war. Sie überquerten den Burghof bis zum Bergfried und gingen in dessen Schatten um ihn herum, um den bedrohten Turm am anderen Ende des Burghofs zu erreichen. Selbst dort war der Kampflärm zwischen den einzelnen Rammstößen nur leise vernehmbar. Angestrengt lauschten sie, um für den nächsten Anprall bereit zu sein. Sie warteten ungeduldig darauf, wechselten leise kurze Bemerkungen und hielten die Augen auf die vordersten Reihen der Verteidiger gerichtet, die an der klaffenden Lücke im unteren Teil des Turmes standen. Schutt und Mauerreste lagen auf dem Boden, aber noch war die Lücke nicht so groß, daß der Turm einzustürzen drohte. Das unruhige Licht von nur wenigen Fackeln, und der trübe Lichtschein am Himmel vor der Mauer, wo Feuer das Schutzdach zur Hälfte vernichtet hatte, ließen den Burghof fast im Dunkeln liegen.
Plötzlich erscholl im Turm ein Warnruf. Er wurde aufgenommen und wanderte durch die Reihen nach hinten, bis in den Hof. Der nächste Vorstoß stand bevor. Die Gruppe der Verteidiger drängte sich in den Turm, um die Bresche mit ihren Leibern zu schließen. Cadfael, der am Rande der Menge stand, empfand den Moment, da Olivier neben ihm davonglitt, als risse man ihn aus seinem Fleisch. Schon bald war er mitten unter den Verteidigern, geschmeidig, schnell und lautlos, und im nächsten Augenblick sah er ihn nicht mehr.
Dennoch zog sich Cadfael nur so weit zurück, daß er den Kämpfenden nicht im Weg war, und wartete geduldig darauf, daß auch dieser Angriff abgeschlagen wurde wie die vorigen. Der Feind kam nicht bis in den Hof. Trotz erbitterten Kampfes gelangte keiner der Angreifer aus dem Turm in den Burghof. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis sie vollständig hinausgedrängt waren, woraufhin sie sich in sicherem Abstand von der Mauer zurückzogen. Danach trat aufs Neue die sonderbare angespannte Stille ein, die zuvor geherrscht hatte. Einer nach dem anderen kehrten die Krieger zurück, die in vorderster Reihe gekämpft hatten, um bis zum nächsten Zusammenprall in Ruhe und Sicherheit Atem zu schöpfen. Olivier war nicht unter ihnen. Entweder hielt er sich irgendwo unten im Turm verborgen oder er war mit den zurückgewiesenen Angreifern in der Schwärze der Nacht verschwunden und strebte, so Gott wollte, der Sicherheit des Waldes entgegen. Von dort aus würde er den Fluß durchqueren und auf die Straße zur Mühle bei Winstone gelangen.
Cadfael kehrte an Philips Lager zurück. Der
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