Bruder Cadfaels Buße
Gedanken aus seinem Kopf und seiner Erinnerung verbannen.
Weder Hugh noch Cadfael gegenüber sprach er den Vorfall an. Er hätte sich geschämt, vor anderen an diese offene Wunde zu rühren und war nicht bereit, sich auf die Worte einzulassen, mit denen Hugh ihn neckte: »Zumindest hat sie Euch nicht gefressen!« Yves tat die Äußerung achselzuckend und mit gequältem Lächeln ab. Nicht einmal die feierlich begangene Komplet, die in Gegenwart von Bischöfen und Mächtigen als Vorbereitung für die Gespräche des nächsten Tages gefeiert wurde, vermochte die Unruhe vollständig aus seinem Kopf zu vertreiben.
Nach dem feierlichen Hochamt trafen im Kapitelsaal der Priorei Sankt Marien Englands Herrscher und sein Adel zu ihren Gesprächen zusammen. Den Vorsitz führten die beiden Bischöfe von Winchester und Ely sowie Bischof Roger de Clinton von Coventry und Lichfield. Obwohl es nicht ausbleiben konnte, daß sie teils der einen und teils der anderen der miteinander verfeindeten Parteien zuneigten, hatte man den Eindruck, daß sie sich ernsthaft um eine Einigung bemühten. Die Kraft für diese Aufgabe suchten sie im tiefen Gebet. Bruder Cadfael versuchte, einen Platz vor den offenen Türen zu ergattern, von wo aus ein Beobachter einen Blick auf die Versammelten erhäschen und unter Umständen hören konnte, was im Saal vor sich ging. Er erkannte bald, daß es besser war, keine zu hohen Erwartungen auf einen guten Ausgang zu hegen. Offenkundig bildete die Kaiserin mit ihren Verbündeten auf der einen Seite und König Stephen mit seinen Stellvertretern und Großvögten auf der anderen jeweils eine geschlossene Gruppe, die gar nichts mit den Vertretern der Gegenseite zu tun haben wollte. Eine solehe Konstellation, die eher an eine Schlachtordnung denken ließ, verhieß nichts Gutes. Dies geschah unabhängig davon, daß sich Menschen, die einander in Freundschaft verbunden waren, über die Trennlinie hinweg begegneten, sobald sie den Kapitelsaal verlassen hatten. Da stand Hugh Beringar Schulter an Schulter mit dem Grafen von Leicester, nur vier oder fünf Plätze vom König entfernt.
Auf der Gegenseite wartete Yves Hugonin dem Grafen von Norfolk auf, jenem Hugh Bigod, der das Augenmerk der Kaiserin wegen eines lobenswert ausgeführten Dienstes auf den jungen Edlen gelenkt hatte. Nach den offiziellen Gesprächen würden sie auf ebenso natürliche Weise zueinander finden wie die rechte und die linke Hand, denn es galt, gemeinsam etwas zu bewerkstelligen. Dort drinnen aber wurde von ihnen erwartet, daß jeder in den beiden einander feindlich gegenüberstehenden Lagern die ihm zugewiesene Rolle spielte.
Aufmerksam ließ Cadfael den Blick über die Reihen der Großen und Mächtigen schweifen, von denen er die meisten noch nie gesehen hatte. Robert Beaumont, der seit seinem vierzehnten Lebensjahr Herr über die Grafschaft Leicester war, kannte er bereits. Er war klug, witzig und weise, wohl einer der wenigen, die hinter den Kulissen auf eine gerechte und vernünftige Lösung hinarbeiteten. Wegen einer mißgestalteten Schulter, die ihn aber im Kampf in keiner Weise behinderte und seinen ansehnlichen Körper kaum entstellte, nannte man ihn auch Robert Bossu, den Buckligen. Neben ihm saß William Martel, König Stephens Oberhofmeister. Er hatte vor einigen Jahren bei Wilton dessen Rückzug gedeckt und war dabei in Gefangenschaft geraten, woraufhin Stephen ihn um den Preis einer wertvollen Burg freigekauft hatte.
An seiner Seite sah man Wilhelm von Ypern, Oberbefehlshaber der flämischen Truppen des Königs, und hinter ihm konnte Cadfael Bischof Nigel von Ely erspähen.
Dazu aber mußte er den Hals recken, um zwischen den Köpfen der anderen Neugierigen einen Blick auf die erlauchte Versammlung zu erhäschen. Da sich der Bischof nach einigen Jahren der königlichen Ungnade wieder mit Stephen versöhnt hatte, war ihm zweifellos darum zu tun, die wiedererlangte Gunst des Herrschers nicht zu verspielen.
Auf der gegenüberliegenden Seite fiel Cadfaels Blick ungehindert auf den Mann, der entschieden die Sache der Kaiserin vertrat: Graf Robert von Gloucester. So wie er für seine Halbschwester die Schlachten im Felde führte, stand er ihr auch hier unablässig zur Seite. Robert von Gloucester war ein breitschultriger Mann von fünfzig Jahren, der sich einfach und schlicht kleidete. Graue Strähnen durchzogen sein braunes Haar, und das gutgeschnittene Gesicht ließ Spuren von Erschöpfung erkennen. Zwei silbrige Linien in seinem
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