Bruderdienst: Roman (German Edition)
ist. Wir wissen jetzt, dass wir eigentlich seinen Bruder haben sollten. Wie ist das möglich? Wu hat uns von der bizarren Einsatzgruppe der CIA in Peking erzählt, die vermutlich in den Monaten März, April und Mai des vergangenen Jahres dort irgendeine hoch geheime Operation durchführte. Jedenfalls waren sie nicht mit Vorbereitungen für Svenjas Einsatz beschäftigt. Laut Wu waren Svenja und Cheng nur ein Ablenkungsmanöver im nordöstlichen Teil des Landes. Im Grunde sieht es für mich so aus, dass es am effektivsten wäre, Svenja in eine Maschine nach Peking zu setzen, damit sie vor Ort ausführlich mit Wu sprechen kann. Das wäre aber natürlich viel zu gefährlich.«
»So ist es!«, bestätigte Sowinski.
»Könnte man Wu nicht kaufen?«, fragte Krause. »Ich meine natürlich einen freundlichen Kauf: Er löst ein Ticket, fliegt hierher und redet ein wenig mit uns.«
»Geht nicht«, sagte Esser kategorisch. »Dann ist er seinen chinesischen Traumjob vermutlich ein für alle Mal los. So dämlich wird er nicht sein. Hier und da ein Telefonat ja, aber hierherkommen und auspacken? Niemals!«
»Ich denke, wir müssen bei dem Bruder ansetzen. Wir sollten eine GA starten.« Also eine Große Anfrage, was bedeutete, dass sie alle nur denkbaren Quellen heranziehen würden, alles, was jemals über diesen Bruder irgendwo geschrieben, gesagt und gemutmaßt worden war. Über einen Politiker der westlichen Welt hätten sie erfahrungsgemäß binnen vierundzwanzig Stunden einen Fünfhundertseitenwälzer beisammen. Nur ganz selten erlebten sie da eine Enttäuschung. Wie das bei einem hochrangigen Mitglied der nordkoreanischen Führungskaste aussah, war freilich schwer abzuschätzen.
»Und wir sollten versuchen zu klären, warum wir diesen Bruder nicht haben. Heute Abend kommt Müller mit diesem Kim im Schlepptau. Bei dem müssen wir weitermachen.«
Sowinski zog einen Zettel aus der Tasche und las den Namen vor: »Il Sung Choi.« Dann zerriss er den Zettel aus alter Gewohnheit. »In einer ersten Besprechung sagte Müller, dass laut Kim der Bruder den Hausnamen der Mutter angenommen hat. Warum, weiß bisher niemand. Kim war auch das Stichwort für den Code auf der Insel. Kim gehört in Nordkorea zu den häufigsten Namen, schließlich führt auch der augenblickliche Staatschef Kim Jong Il diesen Namen. Ich habe gelesen, dass in ganz Nordkorea nur etwa fünfundzwanzig Familiennamen vorkommen. Was ich nicht verstehe: Uns interessiert jetzt also Il Sung Choi, der Bruder des Kim, den Müller aus dem Meer fischte. Mich verunsichert diese Geschichte zusehends: Zwei Brüder marschieren, angeblich ohne voneinander zu wissen und angeblich zur gleichen Zeit, zu diesen Fischerdörfern im Süden Nordkoreas, um von dort zu einer winzigen Insel im Chinesischen Meer zu gelangen, wo sie aufgenommen und in die Freiheit gebracht werden. Das ist eine geradezu irrwitzige Ausgangslage. Und dann kommt ausgerechnet der weitaus Mächtigere der beiden Brüder nicht auf dem Inselchen an. Warum nicht?«
»So ist es angeblich abgelaufen«, beharrte Krause. »Das ist das, was uns bekannt ist, mehr haben wir nicht. Könnte Svenja Wu nicht irgendwo treffen? In Singapur vielleicht?«
»Nein, auf gar keinen Fall. Ein solches Treffen würde für Wu die Bedeutung dieser Affäre ins Unermessliche steigern. Er wird verunsichert, macht dicht.« Esser schüttelte den Kopf. »Das bringt nichts, das bringt absolut nichts.«
»Was brauchen wir jetzt, um etwas klarer zu sehen?«, fragte Krause. »Wir können uns diesen bedeutungslosen Bruder anhören, der gerade zu uns hergeflogen wird. Dann können wir Dehner anhören, der uns – das wissen wir jetzt schon – berichten wird, dass seiner Meinung nach der Nordkoreaner Cheng schlicht ermordet wurde. Vielleicht hat er noch was über die Hintergründe herausbekommen.«
»Wie, um Gottes willen, finden wir jemanden, der uns über die drei Monate Auskunft geben kann, die Archie Goodwin alias Larry in Peking verbrachte, um irgendeine Operation durchzuziehen?« Esser starrte auf den Teppichboden vor seinen Füßen.
»Svenja hat doch mal einen Praktikanten in der Botschaft in Peking erwähnt. Könnten wir nicht versuchen, diesen jungen Mann aufzutreiben? Erinnert sich jemand an seinen Namen?«, fragte Krause.
»Shawn«, kam es von Sowinski wie aus der Pistole geschossen. »Ich weiß allerdings nicht, ob das ein Vorname oder ein Familienname ist.«
»Wir müssen feststellen, wo Shawn sich jetzt aufhält«, legte Krause
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