Bruderdienst: Roman (German Edition)
begann Kim zögernd. »Das war, als er mich besuchte, in meiner Wohnung. Abends. Er wollte, dass ich Nordkorea verlasse.« Kim quälte sich, rutschte unruhig hin und her, verknotete seine Hände. »Er saß da an meinem Tisch und sagte: Du musst weg hier, du hast sowieso niemanden mehr in diesem Land, also kannst du auch gehen.«
»Warum denn das?«
»Ich glaube, er hatte Angst vor mir. Ja, er hatte richtig Angst. Es war ihm klar, dass ich alles wusste, und er muss gedacht haben, wenn ich rede, ist er in Gefahr.« Kim schwieg wieder.
»Aber was hast du denn gewusst?«
»Ich wusste eben viel von seinem Leben. Alles, was er geheim halten musste, was niemand wissen durfte.«
»Kim! Was hat er geheim gehalten?«
»Das mit meiner Frau. Und das mit meiner Tochter. Und er sagte: Ich werde dir ein Konto einrichten. Darauf zahle ich vierzigtausend Dollar ein. Das kannst du nehmen und damit irgendwo ein neues Leben anfangen, wo du willst.«
»Also gut, Fakten, bitte. Wo sollte das Konto sein?«
»In Schanghai. Er hat gesagt, die Bank heiße Schweizerischer Bankverein. Es war ein Geheimkonto, also man konnte nur etwas davon abheben, wenn man ein Kennwort hatte. Und eine Nummer. Die Nummer war zehnachtzig, und das Kennwort war Ahnenverehrung.«
»Ahnenverehrung?«
»Ahnenverehrung. Und die Nummer ist die Nummer des Grabes meiner Eltern auf dem Nordfriedhof in Pjöngjang. Mein Bruder hat sich immer sehr um diese Grabstätte gekümmert, er hat sie oft erwähnt, immer mit Nummer, und er hat dauernd von meinen Eltern geredet. Er sagte so Sätze wie: ›Du gehst nie zu Zehnachtzig, du verehrst unsere Eltern nicht, du bist ein schlechter Sohn.‹ Und ich sollte einfach aus Nordkorea verschwinden. So schnell wie möglich.«
»Moment, Moment, da können wir etwas machen. Also Schanghai, Schweizerischer Bankverein, Nummer zehnachtzig, Kennwort Ahnenverehrung. Sekunde, ich muss mal eben telefonieren.« Müller fühlte sich beinahe fiebrig, er konnte Krause nicht erreichen, aber Esser stand zur Verfügung. Er berichtete, so schnell er konnte. »Wir brauchen die Bestätigung eines solchen Kontos. Nur die Bestätigung.«
»Da kenne ich einen Schleichweg. Ich rufe Sie an.«
Müller unterbrach die Verbindung.
»Was hast du deinem Bruder gesagt, als er dich aufforderte, das Land zu verlassen?«, fragte er weiter.
»Dass ich es mir überlege. Es stimmte ja, ich hatte nichts mehr in Nordkorea. Keine Familie, alle hatten sich von mir abgewandt, ich hatte nichts. Und er hat mir versprochen, dass er dafür sorgt, dass meine Tochter nicht wegen meiner Flucht ins Gefängnis käme. Er sagte, er würde dafür sorgen, dass man sie nicht mehr mit mir in Verbindung bringen könnte. Er hat mir auch erklärt, an welchen Fischer ich mich wenden kann, wenn ich rausfahren will auf diese Insel.«
»Warum hast du ein halbes Jahr mit der Flucht gewartet?«
»Ich habe es nicht gewagt.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum er dich auf einmal loswerden wollte. Und wenn, hätte er das nicht leichter haben können, zum Teufel? Er ist ein mächtiger Mann und er ist rücksichtslos.«
Kims Kopf fuhr zu ihm herum, seine Augen waren schreckhaft geweitet. »Dass du auf diese Idee kommst!« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Das konnte er nicht riskieren. Ich habe alles aufgeschrieben, wirklich alles. Und habe diese Aufzeichnungen einem Mann gegeben, der sie im Fall meines Todes dem Gewerkschaftsvorsitzenden geben sollte. Es waren zwei Ausführungen. Ich habe alles mit Kopie geschrieben, verstehst du? Die Kopie hat ein anderer Mann. Und ich habe meinem Bruder das gesagt.«
»Kim, was hat er dir angetan?«
»Er hat mir alles genommen. Zuerst hat er meine Examensarbeit beim Schulabschluss geklaut und als seine ausgegeben. Meine war wesentlich besser. Er bekam ein Stipendium für die Universität. Aber das habe ich erst später herausgefunden, als ich schon einfacher Beamter war.«
»Und was war mit deiner Frau?«
»Ich hatte eine Frau aus einem kleinen Dorf bei Pjöngjang kennengelernt. Eine sehr schöne Frau. Sie zog zu mir nach Pjöngjang, wir heirateten. Dann wurde sie schwanger und konnte nicht mehr arbeiten. Sie war vorher im Palast der Kinder angestellt gewesen, das ist eine große Bildungsstätte in unserer Hauptstadt. Mein Verdienst war gering, aber meine Frau hatte nach der Geburt unserer Tochter plötzlich ziemlich viel Geld, und ich fragte sie, woher sie das habe. Sie sagte, sie habe das früher gespart, um etwas zu haben, wenn Kinder
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