Bruderdienst: Roman (German Edition)
deine Tochter noch mal wiedergesehen?«
»Ja«, erwiderte er. »Da war so ein Zwang in mir, da konnte ich mir selbst nicht ausweichen, das war ich mir schuldig. Ich brachte so viel wie möglich über Chang in Erfahrung. Am Anfang war das nicht so einfach, mein Bruder hatte dafür gesorgt, dass sie einen anderen Namen trug, sie sollte nichts mehr mit mir zu tun haben und auch nicht mit ihrer Mutter. Aber ich wusste ja schon, wie das geht. Sie hatte sich mit einer anderen jungen Frau angefreundet, wahrscheinlich war es ihr tagsüber langweilig, wenn mein Bruder keine Zeit hatte oder auf Reisen war. Die beiden Frauen gingen spazieren, verließen sogar das Viertel manchmal und kauften in einer Boutique in einem großen Hotel ein. Ich habe auf sie gewartet. Dann stand ich plötzlich vor ihr und habe sie gefragt, was sie denn aus ihrem Leben gemacht habe. Sie reagierte ganz schrecklich. Sie starrte mich an, als habe sie mich noch nie im Leben gesehen, ihre Augen waren voller Verachtung. Sie sagte: ›Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie nicht!‹, und ging mit ihrer Begleiterin davon.« Seine Augen waren groß und leer, aber er schien jetzt ruhig und gefasst.
»Das muss sehr schwer für dich gewesen sein. Hast du jemals überlegt, Kim, was du eigentlich für deinen Bruder bist?«
»Das habe ich sogar sehr oft überlegt. Ich denke, ich bin seine Schwachstelle.« Kim sprach die Worte sehr ruhig und sehr überlegt. Danach schwieg er eine Weile. »Weißt du, ich habe es Charlie schon erzählt: Mein Bruder rief mich kurz vor meiner Flucht an, mehrmals, er beschimpfte mich und forderte: Verlass endlich das Land! Und er fragte zum ersten Mal, ob ich irgendwelche Aufzeichnungen über mein Leben gemacht hätte und ob er darin eine Rolle spielte.«
»Klang er nach Angst?«
»Ja. Da war Angst in seiner Stimme, und ich dachte: Jetzt habe ich ihn! Endlich! Es war wie die Erfüllung eines unmöglichen Traums.«
»Was hast du ihm geantwortet?«
»Ich erzählte ihm von meinen Recherchen über ihn und dass ich eine Kopie des Berichts bei Leuten deponiert hatte, die damit zur Parteispitze gehen, falls mir etwas zustößt.«
»Wie hat er darauf reagiert?«
»Er tobte, wollte mir befehlen, die Berichte von meinen Vertrauensleuten zurückzuholen und sie ihm auszuhändigen. Ich erwiderte, er solle vorsichtig sein, weil die Staatssicherheit unser Gespräch bestimmt mithören würde. Dann unterbrach ich das Gespräch und dachte darüber nach, weshalb er nach so langer Zeit plötzlich bei mir anruft und nach Aufzeichnungen fragt, von denen er vorher nie gehört hat. Er muss irgendwann auf die Idee gekommen sein, dass ich seine Wege über all die Jahre hinweg still verfolgt habe. Aber es ging ja noch weiter, an meinem vorletzten Tag in Nordkorea. Er rief wieder und wieder an. Jedes Mal verlangte er meine Aufzeichnungen, wiederholte ständig, ich solle endlich das Land verlassen. Er war völlig außer sicher, drohte mir sogar mit einem Killer.«
»Hast du das geglaubt?«
»Ja und nein. Ich fragte mich, was diese ständigen Telefonanrufe bewirken sollten. Wieso wollte er meine Aufzeichnungen ausgerechnet an diesem Tag oder am nächsten? Es musste doch einen Grund für seine Eile geben. Und zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich meinen Bruder als ganz schwach, ja geradezu hilflos. Vielleicht hat er sich durch seine furchtbaren Intrigen in eine ausweglose Position manövriert, dachte ich. Ich wusste ja nichts vom Verkauf der Bombe. Aber trotzdem war mir plötzlich klar, dass meinen Bruder etwas trieb.«
Kim sah Svenja aus stark geröteten Augen an, unter denen dunkle Halbmonde lagen. Er war sehr erschöpft. Aber sie musste weiterfragen, konnte ihm jetzt keine Verschnaufpause gewähren.
»Was war es, Kim?«
»Er wollte selbst das Land verlassen. Das war es. Es war so einfach.«
»Aber er hat es nicht verlassen. Du warst auf der Insel, dein Bruder nicht.«
»Vielleicht hat er einen anderen Weg genommen? Vielleicht über die Japanische See? Vielleicht über die Grenze nach China? Oder nach Russland? Mit einem kleinen Flugzeug irgendwohin? Er konnte alles tun, er hatte die Macht.«
»Das ist richtig.«
Svenja stand auf, ging ein paar Schritte auf und ab. Sie musste sich einfach bewegen. Die Spannung war fast greifbar.
»Aber auf deiner Flucht hast du ihn nicht gesehen?«
»Nein, natürlich nicht. Er wird doch nicht den Weg wählen, den die einfachen Leute gehen. Das hat er doch gar nicht nötig.«
»Entschuldige mich bitte kurz,
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