Bruderdienst: Roman (German Edition)
gehen Sie bitte nicht so nah an den Rand, das macht mich nervös.«
»Keine Sorge, ich habe mir auch eine andere Todesart zugedacht. Auf keinen Fall zehn Sekunden freier Fall.«
Er stand am Rand und blickte senkrecht in die Tiefe, und Edda hinter ihm sagte leise und mit zittriger Stimme: »Um Gottes willen, Mister Cross, nicht so nah.«
»Ich bin schwindelfrei«, beruhigte er sie und schoss schnell hintereinander eine Reihe Fotos.
»Und das Hotel braucht doch keine Angst zu haben, wenn die Eisentür verschlossen ist. Oder hat es etwa Lebensmüde gegeben?«
»Einen«, sagte sie. »Im vorigen Jahr. Und niemand konnte sich erklären, wie er aufs Dach gekommen ist. Ein Koreaner oder so. Hatte einen amerikanischen Namen, sprach aber kaum Englisch.«
Dehner fotografierte sehr konzentriert, hüpfte hin und her, richtete die Kamera über die Dächer Richtung Meer, dann in eine der Straßenschluchten. Zuweilen sprach er dabei mit sich selbst: »Nein, da gehe ich besser auf ein Querformat« oder: »Fantastisch, die Straßenbahn da unten.« Dann beruhigte er Edda: »Moment noch, gleich bin ich fertig.« Und sie antwortete: »Wir haben Zeit, junger Mann, und ich muss nicht in fremde Zimmer stürzen und dabei Pommes frites verlieren.« Sie lachten beide und waren sich eindeutig sympathisch.
»Und dieser Koreaner? Hat dem jemand die Tür aufgeschlossen? Oder hat der auch gesagt, er wolle fotografieren?«
»Der doch nicht. Er hockte immer nur in seinem Zimmer. Ein einfaches Zimmer im Neunten. Er kam auch nicht zum Frühstück und ging nicht essen. Wir hatten eine Schale mit Äpfeln an der Rezeption stehen. Er nahm sich zwei, ging auf sein Zimmer und blieb da. Das war richtig unheimlich.«
»Wie lange war er denn bei euch?«
»Nur drei Tage. Aber das ist keine gute Erinnerung. Ich weiß noch, ich war eingeteilt im Restaurant Zwo im Dritten. Und dann schoss etwas am Fenster vorbei, und ich dachte, ich spinne. Einwandfrei ein Mensch. Da kann doch keiner vorbeifliegen. Es war richtig gruselig. Ja, und dann lag er da.«
»Und wie ist er auf das Dach gekommen?«
»Das weiß eben kein Mensch. Einen Schlüssel hat der Hausmeister, einer hängt unten am Brett im Dienstraum. Und beide Schlüssel waren da, niemand hatte sie ausgeliehen oder so. Aber die Tür stand auf. Das war schon merkwürdig.«
»Und wann war das?«
»Am 24. April vorigen Jahres. Ich weiß das noch so genau, weil ich mittags mit meinem jüngsten Sohn beim Arzt war. Da kriegte er dann die richtig beschissene Diagnose Leukämie. Wir haben die Cops angerufen, und die kamen auch schnell und fanden das alles sehr eigenartig. Sie haben sich richtig Mühe gegeben. Die haben sogar das Schloss von der Tür ausgebaut und untersuchen lassen. Aber da gab es nichts zu untersuchen, haben sie gesagt. Keine Fummelei am Schloss, alles in Ordnung.«
»So, jetzt bin ich aber fertig!«, stellte Dehner fest. »Wie alt war denn der Mann?«
»Zweiundfünfzig, glaube ich. Sein Name war Han Ho Smith, ziemlich komisch für einen Koreaner. Na ja, da steckt man ja nicht drin.«
»Kamen Angehörige?« Er fummelte an seiner Nikon herum, wechselte das Objektiv aus.
»Nein, es war niemand hier. Die Jungs von der Streife haben mir eine Woche später erzählt, der Fall würde nicht mehr untersucht, der Staatsanwalt hatte entschieden: Deckel drauf! Officer Stuart, der unser Haus- und Hofpolizist ist, hat mir im Vertrauen gesagt, dass Smith keine Verwandten hat und dass seine Rechnung von der Behörde bezahlt wird. So geht es manchmal.«
»Und welche Behörde war das?«
»Keine Ahnung.«
»Was ist mit Ihrem Sohn? Geht es ihm besser?«
»Ja«, sagte sie strahlend. »Stellen Sie sich vor, er hat es tatsächlich in den Griff gekriegt.«
»Das ist toll!«, sagte Dehner. Und da er sich mit ekelhaften Krankheiten wirklich auskannte, klang das auch sehr überzeugend.
Edda schloss die Stahltür hinter ihnen ab, und gemeinsam gingen sie hinunter, während Dehner aus der Hüfte nach vorn und hinten fotografierte, um die Treppe und die Stahltür zu dokumentieren.
»Was ist eigentlich hier im sechzehnten?«
»Zwei Konferenzräume, sonst nichts. Und sechs Übersetzerkabinen und eine kleine Bar, die nur bestückt wird, wenn wir Gruppen im Haus haben, die irgendwelche Konferenzen veranstalten.«
»Es ist komisch mit den Menschen«, sinnierte er. »Sie tauchen auf, fallen vom Dach, sind tot. Kein Mensch kann es erklären, irgendeine Behörde zahlt die Übernachtung – und das war’s dann.
Weitere Kostenlose Bücher