Bruderdienst: Roman (German Edition)
lachte erleichtert und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Dann breitete er die Arme weit aus und umarmte Müller. Er stank bestialisch, und aus der Nase lief ihm der Rotz.
Müller fummelte nach einem Paket Papiertaschentücher und reichte ihm eines.
»Okay, okay«, sagte der Mann begeistert und putzte sich die Nase.
Er war barfuß, und sein Gebiss war ein Steinbruch mit Spuren eines silbrigen Metalls. Der dunkle Anzug, den er trug, war zwar klatschnass, aber deutlich erkennbar sehr alt und fadenscheinig. Das wohl ehemals weiße Hemd war nur noch ein grauer Fetzen. Die braunen Augen des Mannes blickten bescheiden in diese Welt, und nach Müllers Schätzung war er um die fünfzig Jahre alt.
Der Skipper brüllte auf Englisch: »Hilf ihm, er soll sich ausziehen, sonst hat er eine Lungenentzündung, wenn wir ankommen. Wir sind hier nicht in der Südsee. Da vorn liegt eine Decke, links im Bug.« Dann folgten ein paar abgehackte Worte auf Koreanisch.
Der Mann lachte schallend und nickte und sagte dauernd begeistert: »Okay, okay, okay!« Dann zog er die Anzugjacke aus, das Hemd, stieg aus der Hose und stand da in einer löchrigen weißen Unterhose.
Müller fand die Decke und warf sie ihm zu. Die Decke passte zu dem ganzen Unternehmen: Sie war dreckig, sie stank, und sie war übersät mit dunklen Flecken, die nach Teer aussahen.
Jetzt ließ der Mann auch noch die Unterhose herunter, griff nach der Decke und wickelte sich darin ein. Dann taumelte er unvermittelt hin und her, seine Augäpfel verdrehten sich nach oben, und er schlug wie ein gefällter Baum lang auf das Deck.
»Scheiße!«, sagte Müller laut.
Der Skipper kam angelaufen, kniete sich neben Kim auf das Deck und schlug ihm leicht rechts und links ins Gesicht. Es dauerte lange, ehe Kim wieder die Augen öffnete.
Der Skipper stellte ein paar Fragen auf Koreanisch, und Kim antwortete leise, hauchte die Worte fast.
»Was ist?«, fragte Müller.
»Er ist seit fünf Tagen auf der Insel«, erklärte der Skipper. »Und die Nächte dazwischen natürlich. Und er hatte nur die Blätter von den Bäumen. Das Beste ist, du bringst ihn ins Steuerhaus. Da kann er wenigstens liegen. Und eine Suppe sollte er haben, verdammt schnell sogar. Sonst haben wir bald einen Köder für die Fische.«
Kim lächelte Müller an, zögerlich, dann bleckte er seine wenigen Zähne und bat wortlos um Vergebung.
Du bist ein armes Schwein, dachte Müller. Ich nehme an, das größte Geheimnis, das du mit dir herumträgst, ist deine Hausnummer.
Kim nieste dreimal hintereinander und flüsterte jedes Mal: »Sorry!« Er hielt geduldig still, als Müller ihm die Nase putzte.
Es war noch immer sein erster Tag in San Francisco, als Thomas Dehner nach zwei Stunden Schlaf gegen zwanzig Uhr aufwachte. Der Jetlag beutelte ihn gewaltig, aber fürs Erste fühlte er sich halbwegs erholt. Da er Sowinskis Aufforderung, schnell zu arbeiten, noch im Ohr hatte, überlegte er, wie er seine nächste Tour am besten angehen sollte.
Die Frage war nicht, ob an der Sache mit dem mysteriösen Tod von Cheng etwas faul war, die Frage war, wie viele Indizien Sowinski brauchte, um ihn nach Berlin zurückzurufen.
Doch zuerst rief er seine Mutter an.
»Dehner hier.«
»Hier auch.« Er fand, ihre Stimme klang belegt. »Wie geht es dir heute Morgen?«
»Gut«, sagte sie. Sie sagte immer gut. »Und wie ist San Francisco?«
»Schöne Stadt. Kommt Doktor Werrelmann heute?«
»Er war gestern Abend noch da, ziemlich spät. Er sagt, es ist alles in Ordnung. Und ich müsste Geduld haben mit den neuen Medikamenten. Das kann dauern, sagt er.«
»Du klingst nach einer Erkältung«, sagte er vorwurfsvoll. »Und versuch nicht, mich zu belügen.«
»Ich belüge dich doch nie.«
»Du belügst mich zweimal am Tag, wenn es sein muss. Wie ist das Wetter bei euch?«
»Kalt und regnerisch. Aber ich kriege davon nichts mit, wie du weißt.«
»Du kannst doch Tante Käthe anrufen und sie bitten, dir ein paar Filme auszuleihen.«
»Aber ich lese viel lieber, das weißt du doch. Die Filme spulen in anderthalb Stunden alles ab, und dann hockst du da und fragst dich, was du gerade gesehen hast. Filme sind irgendwie unbefriedigend.«
»Aber nein! Denk doch nur an Vom Winde verweht . Der ist doch besser als das Buch, viel besser sogar.«
»Du mit deinem Schnulzentick!« Sie lachte, und ihre Stimme klang wirklich belegt.
»Na gut, ich melde mich später noch mal, ich muss jetzt los.«
Er verzichtete auf den Anzug und
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