Brüchige Siege
bereits den
Sachbuchregalen zuwandte. »B-O-L-E-S. Füllen Sie das
Formular so weit wie möglich ohne uns aus.«
»Natürlich. Natürlich.« Mrs. Hocking winkte uns davon.
»Stöbern Sie nach Herzenslust.«
In der Abteilung für Philosphie und Psychologie legte Jumbo
mir die Hände auf die Schultern und versuchte zu flüstern:
»Inwendig, Daniel, sieht es bei Mrs. Hocking nicht viel
anders aus als bei ihrer Gehilfin Margaret – beide sind nervös und haben Angst. Jetzt begreife ich das. Ihre
Überschwenglichkeit verrät sie. Niemand soll merken, wie
abstoßend sie mich findet – ich nicht und sie auch nicht.«
Ah-ah. Jumbo hätte zu gerne geglaubt, daß Mrs. Hocking ihn
um seiner selbst willen mochte.
»Ich täusche mich nicht«, flüsterte er. »Aus ihrem Verhalten
hätte ich das schon früher ableiten können.« Er ließ von mir
ab, um an den Regalen vorbeizustreifen, Titel und
Autorennamen murmelnd, und schob sich wie ein hünenhafter
Archivar auf Zehen um die anderen Besucher herum.
Die Arme voller Bücher kehrten wir an die Ausleihe zurück
und luden sie ab wie Ziegelschlepper ihre Ziegel. Mrs.
Hocking legte noch das reservierte Buch dazu, und ich füllte in meinem Antrag aus, was die Gehilfin noch nicht ausgefüllt
hatte.
»Sind das nicht mehr als zehn?« Mrs. Hocking stempelte
weiter.
»Elf mit dem reservierten«, sagte Jumbo. »Aber das können
Sie ja auf Daniels Karte nehmen.«
»Ich fürchte…«, setzte Mrs. Hocking an. »Sehr gut«, sagte
sie dann. »Er kann nur profitieren von der Lektüre, sollte er
noch Zeit haben, es zu lesen, Mr. Clerval.« Sie hantierte und
stempelte. »Schönen Tag noch, Gentlemen. Und geben Sie
ihren Baseballrivalen tüchtig eins drauf.«
»Danke«, sagte Jumbo. »Sie sind mehr als freundlich.« Er
schob die Ausbeute in den Beutel und bugsierte mich zur Tür
hinaus.
Draußen sah ich ihn enttäuscht an. Eben hatte er Mrs.
Hocking mehr als freundlich bezeichnet. Aber wenn er sie (zuvor zwischen den Regalen) richtig eingeschätzt hatte, dann
war das eine Lüge.
»Sie will einem unbedingt gut Freund sein«, erwiderte Jumbo
meinen Blick, »auch wenn ihr dieses natürliche Verlangen
entgeht. Ich habe zu ihrem Verlangen gesprochen, nicht zu
ihrer schwärenden Anfälligkeit.«
Das klang zwar geschraubt, machte aber Sinn. Wenn er
wollte, daß Mrs. Hockings Seele flügge wurde, mußte es
erlaubt sein, sie zu hätscheln.
An einem Stand im Marktpavillon kauften wir Birnen und
setzten uns auf den Betonboden, um sie zu essen. Kisten und
Körbe mit Feld- und Gartenerträgen – Rübenblätter,
ungedroschenes Frühkorn, dicke Tomaten – entzogen uns mehr
oder weniger autogrammhungrigen Blicken. Ich aß meine
Birne auf, nahm das Notizbuch aus der Hemdtasche und
schrieb eine Frage:
Welches Buch hast du vormerken lassen?
Jumbo grub in den Büchern und zog es heraus. Er ließ es auf
meinen Schoß fallen. Ich wischte mir die klebrigen Hände an
der Hose ab, damit ich das Bändchen anfassen konnte. On
Being a Real Person von Harry Emerson Fosdick*, Anleitung zur Selbsthilfe von dem bekannten Gottesmann aus New York.
»Es ist die zentrale Aufgabe eines Menschen, eine wirkliche Person zu sein«, sagte Jumbo. »So lautet der erste Satz von Mr. Fosdick.«
Der Satz von Mr. Fosdick sagte mir damals überhaupt nichts.
Bei Fosdick dachte ich nur an Fearless Fosdick, den Cartoon-Detektiv, den Al Capp in Li’l Abner geschaffen hatte, um Dick Tracy hinter Gitter zu bringen. Fearless Fosdick streunte herum mit lauter Gucklöchern im Leib – die ihn wohl nicht
weiter störten. Jedenfalls stellte ich mir diesen Harry Emerson Fosdick mit lauter glatten Durchschüssen an der
Schreibmaschine vor, wie er On Being a Real Person
herunterhackte, und das, wo er doch selbst eine perforierte
Cartoon-Figur war.
Ich schrieb Fearless Fosdick? in mein Notizbuch und reichte Jumbo das Blatt. Seine Miene erinnerte an die eines Babys, das angestrengt in seine Windeln drückt.
»Ich halte diesen Mr. Fosdick« – er klopfte auf das Buch –
»für furchtloser als man gemeinhin annimmt. Man braucht…
Mut, um darüber zu schreiben, wie man eine authentische
Identität entwickelt.«
Wir machten uns wieder auf die Beine. Ich trug den Beutel
mit den Büchern, und Jumbo ging in meinem Fahrwasser und
las Fosdicks Bestseller. In seinen Händen sah das Bändchen
nicht größer aus als eine Streichholzschachtel.
21
IN
TENKILLER HATTE
MAMA PRAKTISCH
mit
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