Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Herausforderung.
GENSCHER
Deshalb stellt sich ja die Frage, ob die Politik angesichts der neuen Realitäten radikal genug Konsequenzen zieht. Ich bin der Meinung, dass die gesamte Umweltpolitik wirksamer werden muss, aber nicht bürokratischer oder wachstumshemmender. Das hat eben genau damit zu tun, dass immer mehr Menschen auf dieser Erde leben und dass ihre Lebensart sich verändert. Ich habe damals immer gesagt, stellt euch mal vor, wenn es in China pro Kopf der Bevölkerung so viele Autos gibt wie in Deutschland, was das allein bedeutet – bei gleichen Regeln, wie wir sie in Deutschland haben?
Umweltpolitik 1969 / 70 war neu – heute muss sie wieder neu gedacht werden. Ich will es einmal ganz grundsätzlich formulieren: Wir sind daran gewöhnt gewesen, viele Dinge primär im nationalen Rahmen zu denken, dann im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, im Rahmen der marktwirtschaftlichen Länder, aber in Wahrheit immer auch im Rahmen des Ost-West-Konfliktes. Lange Zeit hat gerade dieser Konflikt zwischen den Systemen viele unserer politischen Entscheidungen beeinflusst, in seinem Schatten fand Politik statt. Von der groben Vernachlässigung des Umweltschutzes in den sozialistischen Staaten war wenig die Rede. Das ging 1989 zu Ende. Jetzt befinden wir uns in einer Phase, die wir mit Globalisierung beschreiben, die uns in Wahrheit aber abverlangt – aber auch die Chance eröffnet –, dass wir alle Fragen, auf die wir Antworten suchen, vor diesem neuen, anderen Hintergrund beantworten. Jetzt beeinflusst die Globalisierung alles.
Das heißt, der einst nationale Wettbewerb ist weltweit geworden – früher spielte er sich nur unter den damaligen Industriemächten dieser Welt ab. Stabilität ist heute nur noch global zu erreichen – die Welt ist so zusammengewachsen, dass es keine entfernten Gebiete von geringerem Interesse mehr gibt, sondern alles, was geschieht, betrifft alle. Und alle Fragen haben wir in diesem Licht zu beantworten.
LINDNER
Um bei Ihrem Beispiel der Autos in China zu bleiben: Die Chinesen streben eine weltweite Poleposition bei der Elektromobilität an.
GENSCHER
Das heißt, es wurde dort bereits reagiert. Wünschenswerterweise.
LINDNER
Ich will das Problem durch diesen Hinweis nicht verharmlosen. Da gibt es noch viele praktische und technische Probleme. Mir geht es im Kern um etwas anderes: Wir werden den Schwellenländern keine Askese und keinen Wohlstandsverzicht verordnen können. Diese Vorstellung wäre naiv – und ethisch fragwürdig wäre es zudem, anderen die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse versagen zu wollen. Mit welchem Recht würde sich der Westen das herausnehmen können? Wieso sollten Gesellschaften wie China Verzicht üben? Es ist also die zentrale globale Aufgabe, den Schutz des Klimas mit Wachstum und Wohlstandszuwachs zu verbinden. Das ist eine besondere Verantwortung für Deutschland in Europa und für Europa in der Welt, denn wir gehören zu den Regionen der Welt mit den höchsten Pro-Kopf-Emissionen an Klimagas. Deshalb müssen wir schonender mit natürlichen Lebensgrundlagen umgehen. Das können wir sonst auch anderen nicht empfehlen, zumindest nicht mit argumentativer Autorität.
Also geht es um eine Vorbildfunktion, die allerdings nicht so weit überdehnt werden darf, dass die wirtschaftliche Dynamik bei uns stranguliert wird. Ganz abgesehen davon, dass wir zwischen Bielefeld und Bonn das Weltklima nicht im Alleingang retten können: Dann würden wir ja Schwellenländern gerade das negative Beispiel bieten, dass Klimaschutz und Wohlstandsgewinne sich ausschließen. Die Lösung ist also nicht Verzicht, sondern Innovation. Um beim Beispiel zu bleiben: nicht die Absage an individuelle Mobilität, sondern die Realisierung dieses Bedürfnisses mit neuen Technologien. Die Schwellenländer müssen nicht alle früheren Entwicklungsstufen der westlichen Länder durchlaufen, sondern können gleich auf Zukunftslösungen setzen. Das hat den Vorteil, dass wir uns als Technologieführer Marktchancen erhalten.
GENSCHER
Sie sprachen von Wachstum. Welches meinen Sie eigentlich? Wir müssen darauf achten, dass es die menschenwürdige Umwelt nicht beeinträchtigt.
»Beim Begriff ›qualitatives Wachstum‹ bin ich zurückhaltend«
LINDNER
Ich teile prinzipiell Ihren Gedanken. Wirtschaftliche Dynamik ist nicht gleichbedeutend damit, endliche Ressourcen abzufackeln. Mit kreativen Lösungen können höherwertige Güter erzeugt werden – also »besser« statt
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