Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
»mehr«. Wachstum ist – nebenbei gesagt – auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit: Wir brauchen eine prosperierende Wirtschaft, um dem Einzelnen seinen individuellen Aufstieg zu erleichtern. In der erstarrten Gesellschaft wäre eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation nur im Kampf um die Umverteilung des Bestehenden möglich. Beim Begriff »qualitatives Wachstum«, wie er heute gebraucht wird, bin ich zurückhaltend, weil hier gelegentlich anderes mitschwingt: eine wirtschaftspolitische Zensur bestimmter Branchen, die nicht genehm sind.
GENSCHER
Bitte werden Sie deutlicher.
LINDNER
Nehmen wir die Grünenpolitikerin, die ernsthaft öffentlich gesagt hat, sie wisse ganz genau, welche Autos die deutsche Industrie bauen müsste, welche Branchen wachsen und welche Branchen schrumpfen müssten. Das ist eine Anmaßung von Wissen, die mich an den Bericht des Club of Rome von 1972 zu den »Grenzen des Wachstums« erinnert. Natürlich darf Freiheit nicht mit Grenzenlosigkeit verwechselt werden. Freiheit impliziert aber, Grenzen innovativ hinausschieben zu können. Auch endliche Ressourcen können verbraucht werden, wenn der gleiche Zweck in der Zukunft durch bessere Mittel erfüllt und die verbrauchten Rohstoffe dann ersetzt werden können. Die angeblichen Grenzen hat der menschliche Geist durch Spitzentechnologien oder Spitzendienstleistungen bisher immer wieder überwunden. Zukunft ist eben nicht planbar. Und deshalb muss die Entwicklungsrichtung offen bleiben. Wenn man beispielsweise die Energiekonzepte der siebziger Jahre ohne stetig neue Erkenntnis umgesetzt hätte, dann wären in Deutschland heute Dutzende Kernkraftwerke in Betrieb.
GENSCHER
Es geht jetzt um ein liberales Verständnis, wie man für den Umweltschutz globale Rahmenbedingungen schafft.
LINDNER
Ja, aber ich will den Aspekt dennoch vertiefen, um einen Unterschied in der politischen Theorie zu verdeutlichen. Von der Anmaßung von Wissen ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis dieses vermeintliche Wissen auch durch Subventionen und Gesetze durchgesetzt wird. In diesem Zusammenhang sprechen Sozialdemokraten und Grüne gerne von einer »demokratischen Marktwirtschaft«, nicht mehr von Sozialer Marktwirtschaft. Dass der parlamentarische Gesetzgeber die Regeln bestimmt und Ziele vorgibt, das ist genauso richtig wie trivial. Das ist auch in der Sozialen Marktwirtschaft so – dafür braucht es keinen neuen Begriff. Hier soll offenbar stärker Einfluss genommen werden! Das läuft meinem Verständnis von der Entwicklungsoffenheit einer Gesellschaft zuwider, wenn Politiker entscheiden, welche Richtung eine Gesellschaft nehmen soll. Sie setzen die Rahmenbedingungen – ja –, aber der Rest wird von den Bürgerinnen und Bürgern entschieden. Mit dem heute verfügbaren Wissen würde ich mir jedenfalls nicht zutrauen, abschließende Antworten zu geben. Also darf man vermuten, dass über diesen Umweg auch ganz andere Ziele angestrebt werden sollen. Mit dem Klimaschutzgesetz der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen besteht etwa die verwaltungstechnische Handhabe, gesellschaftspolitische Vorbehalte gegen konventionelle Landwirtschaft und Industrie mit dem Tarnargument des Klimaschutzes praktisch umzusetzen. Ökologisch wirksam ist dieses Gesetz dagegen nicht, weil es ja – wie gesagt – längst einen europäischen Mechanismus gibt. Im Englischen würde man sagen: Das ist
overdone
.
GENSCHER
Ich stimme Ihren ordnungspolitischen Vorstellungen ohne Einschränkung zu. Im Blick zurück kann oder muss man feststellen: Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist für die Liberalen in Deutschland ein Glanzpunkt in ihrer Geschichte und leider gleichzeitig auch ein zentrales Thema, dass sie kampflos aus der Hand gegeben haben. Dabei ist der Begriff der Nachhaltigkeit, der in diesem Zusammenhang in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wurde, nun sogar ein Leitbild für alle Lebensbereiche geworden. Hier liegt die historische Leistung von Hans Jonas mit seinem zentralen Werk
Prinzip Verantwortung
. Mir hat Jonas unendlich viel gegeben. Verantwortung drückt die Moral der Freiheit aus; und Zukunftsverantwortung die Verpflichtung auf die Gestaltung der Zukunft in Freiheit und in Menschenwürde. Jonas hat damit dem kategorischen Imperativ Kants die Zukunftsperspektive eröffnet: Verantwortung als Zukunftsverantwortung.
Liberalität in Zeiten des Terrors, Liberalität in Zeiten des Netzes
LINDNER
So wie zu Ihrer Zeit die Umweltpolitik
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