Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
behält der König ja die Oberhand. Vielleicht tragen wir doch noch den Sieg davon.«
»Euer Sieg wäre mein Tod.«
»Das würde ich nicht wollen«, sagte Louis.
»Du bist ein Heuchler. Du musst es wollen. Du kannst kein Ziel verfolgen und dann seine natürlichen Konsequenzen ableugnen.«
»Ich verfolge kein Ziel. Ich wahre die Treue.«
»Diesem armseligen fetten Idioten? Niemand, der halbwegs ernst genommen werden will, darf für Louis Capet in den Tod gehen. Das ist grotesk, tut mir leid.«
Louis wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht … Vielleicht gebe ich dir letzten Endes ja sogar recht. Aber es ist nicht länger zu vermeiden.«
Camille machte eine ungeduldige Handbewegung. »Natürlich ist es das! Geh heim in deine Wohnung und verbrenne alles, von dem du denkst, dass es dich belasten könnte. Übersieh nichts – je weiter die Revolution fortschreitet, desto mehr neue Verbrechen gibt es. Pack nur das, was du unbedingt brauchst, damit es nicht aussieht, als würdest du irgendwo hinwollen. Später kannst du mir dann deine Schlüssel geben, und ich kümmere mich um alles, wenn wir … ich meine, nächste Woche. Komm nicht hierher zurück, wir haben ein paar von den Leuten aus Marseilles zu einem frühen Abendessen eingeladen. Geh zu Annette Duplessis und bleib dort, bis ich komme. Wenn du da bist, setz dich hin und verfasse ganz klare Anweisungen, wie du deine Finanzangelegenheiten geregelt haben willst. Aber diktiere sie, sie sollten nicht in deiner Schrift abgefasst sein, mein Schwiegervater kann sie für dich schreiben, und er kann dir Ratschläge geben. Unterschreibe sie nicht und lass sie nicht herumliegen. Derweil besorge ich dir einen Pass und die restlichen Papiere. Du kannst Englisch, oder?«
»Du scheinst ja ziemlich versiert im Erteilen von Befehlen. Man könnte meinen, dass du jeden Tag Leute in die Verbannung schickst.«
»Herrgott noch mal, Louis.«
»Danke, aber nein danke.«
»Gut« – in beschwörendem Ton jetzt – »wenn du das nicht willst, komm einfach um neun wieder hierher, ich lenke die Leute dann morgen ab. Niemand wird dich sehen. Eine Chance wäre es jedenfalls.«
»Aber Camille, das Risiko, das du eingehst – du könntest dir Ärger einhandeln, furchtbaren Ärger.«
»Du kommst ja ohnehin nicht, oder?«
»Nein.«
»Warum dann überhaupt darüber reden?«
»Weil ich mir Sorgen um dich mache. Du hast keinerlei Verpflichtung mir gegenüber. Es hat uns auf unterschiedliche Seiten verschlagen – nein, falsch, wir haben uns auf unterschiedliche Seiten gestellt –, und ich hätte nie erwartet, mir nie träumen lassen, dass deine Freundschaft unter diesen Umständen so lange fortbestehen könnte.«
»Früher hast du nicht so gedacht – früher hast du gelacht und gesagt, die Menschen kämen vor der Politik.«
»Ich weiß. ›Freiheit, Lebenslust, königliche Demokratie.‹ Damals habe ich an meinen Wahlspruch geglaubt, aber heute nicht mehr. Es wird kein Königtum geben und im Zweifel herzlich wenig Freiheit, und es werden immer wieder Krieg und Bürgerkrieg herrschen, darum räume ich der Lebenslust auch keine großen Chancen ein. Du wirst sehen, dass von jetzt an – nach dem morgigen Tag, meine ich – private Loyalität sehr wenig zählt im Leben der Menschen.«
»Das heißt, du berufst dich auf die Revolution – auf das, was die Revolution deiner Meinung nach ist –, um mir weiszumachen, dass ich tatenlos zusehen muss, wie ein mir lieber Mensch durch eigene Dummheit zugrunde geht?«
»Ich will nicht, dass du überhaupt noch einmal darüber nachdenkst.«
»Ich lasse das nicht zu. Ich lasse dich heute Abend festnehmen. Ich erlaube dir nicht, dich umzubringen.«
»Damit tätest du mir keinen Gefallen. Ich bin bisher der Laterne entgangen, und ich habe keine Lust, mich aus dem Gefängnis schleifen und lynchen zu lassen. Das ist kein menschenwürdiges Ende. Ich weiß, dass du mich verhaften lassen könntest. Aber das wäre Verrat.«
»Verrat woran?«
»An den Prinzipien.«
»Bin ich für dich ein Prinzip? Bist du für mich eines?«
»Frag Robespierre«, sagte Louis müde. »Frag den Mann mit dem Gewissen, was mehr zählt, dein Freund oder dein Land – frag ihn, welchen Stellenwert er dem Einzelnen innerhalb des großen Ganzen zumisst. Frag ihn, was zuerst kommt, seine alten Gefährten oder seine neuen Prinzipien. Geh und frag ihn, Camille.« Er stand auf. »Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt herkommen soll – ob dir das nicht nur Probleme
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