Brunetti 02 - Endstation Venedig
Fahrstuhls und lächelten einander höflich zu, während sie langsam ins oberste Stockwerk fuhren.
Der Fahrstuhl hielt knirschend an, und der Geschäftsführer öffnete die Doppeltüren und hielt sie fest, während Brunetti und Paola ausstiegen, dann führte er sie in das hell erleuchtete Restaurant. Brunetti sah sich automatisch nach dem nächsten Ausgang sowie nach potentiellen Gewalttätern um, eine Inspektion, die er ohne nachzudenken jedem öffentlichen Raum zuteil werden ließ, den er betrat. In einer Ecke am Fenster, mit Blick auf den Canal Grande, saßen seine Schwiegereltern und ihre Freunde, die Pastores, ein älteres Ehepaar aus Mailand. Sie waren Paolas Paten und die ältesten Freunde ihrer Eltern und darum von jeder Kritik und jedem Tadel strikt ausgenommen.
Als er und Paola sich dem runden Tisch näherten, erhoben sich die beiden älteren Männer in ihren dunklen Anzügen, die von gleicher Qualität, wenn auch von verschiedener Farbe waren. Paolas Vater küßte sie auf die Wange und schüttelte dann Brunettis Hand, während Dr. Pastore Paolas Hand küßte und anschließend Brunetti umarmte und auf beide Wangen küßte. Weil er dem Mann nie ganz entspannt gegenübertreten konnte, fühlte Brunetti sich bei dieser Demonstration von Vertrautheit immer etwas unwohl.
Was ihm dieses Essen vermieste, dieses alljährliche Ritual, das Paola mit in die Ehe gebracht hatte, war unter anderem, daß Dr. Pastore jedesmal schon das Menü bestellt hatte, wenn Brunetti ankam. Natürlich war der Dottore höchst fürsorglich und betonte immer wieder, daß doch hoffentlich niemand etwas dagegen habe, wenn er sich die Freiheit nehme, schon einmal zu bestellen; es sei gerade die Saison für dieses oder jenes, Trüffeln seien jetzt am besten, die ersten Wiesenchampignons kämen gerade auf den Markt. Und er hatte immer recht, das Mahl war immer köstlich, aber Brunetti konnte es nicht leiden, wenn er nicht bestellen durfte, worauf er Appetit hatte, selbst wenn das sich dann als weniger köstlich herausstellte als das, was man ihm vorsetzte. Und jedes Jahr schimpfte er sich selbst dumm und eigensinnig und konnte doch kaum den Anflug von Ärger überwinden, den er empfand, wenn er jedes Jahr aufs neue feststellen mußte, daß schon alles geplant und bestellt war, ohne daß man ihn gefragt und mit einbezogen hatte. Männliches Ego gegen mannliches Ego? Sicher war es nicht mehr als das. Fragen des Gaumens und der Küche hatten nicht das geringste damit zu tun.
Die üblichen Komplimente wurden ausgetauscht, dann kam die Platzverteilung. Brunetti saß schließlich mit dem Rücken zum Fenster, zu seiner Rechten Dr. Pastore, und Paolas Vater ihm gegenüber.
»Wie schon, Sie wiederzusehen, Guido«, sagte Dr. Pastore. »Orazio und ich sprachen gerade von Ihnen.«
»Hoffentlich nur schlecht«, warf Paola lachend ein, aber dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit ihrer Mutter, die den Stoff ihres Kleides befingerte, ein Zeichen, daß es doch neu war, und Signora Pastore, die noch immer Paolas Hand festhielt.
Der Dottore sah Brunetti höflich fragend an. »Wir sprachen von diesem Amerikaner. Sie leiten doch die Ermittlungen, nicht wahr?«
»Ja, Dottore, so ist es.«
»Warum sollte jemand einen Amerikaner umbringen wollen? Er war Soldat, nicht? Raub? Rache? Eifersucht?« Weil der Dottore Italiener war, fielen ihm keine anderen Motive ein.
»Wer weiß«, sagte Brunetti, womit er alle fünf Fragen gleichzeitig beantwortete. Er hielt inne, als zwei Ober große Vorspeisenplatten mit Meeresfrüchten an den Tisch brachten und allen nacheinander davon vorlegten. Der Dottore wartete, momentan mehr an dem Mord interessiert als an dem Essen, bis alle bedient und die angemessenen Komplimente über die Wahl ausgesprochen waren, und nahm dann das ursprüngliche Thema wieder auf.
»Haben Sie irgendwelche Vorstellungen?«
»Nichts Bestimmtes«, antwortete Brunetti und aß eine Garnele.
»Drogen?« fragte Paolas Vater, womit er eine größere Weitläufigkeit an den Tag legte als sein Freund.
Brunetti wiederholte sein »wer weiß« und aß noch ein paar Garnelen, die zu seinem Entzücken frisch und köstlich waren.
Bei dem Wort »Drogen« mischte sich Paolas Mutter ein und wollte wissen, worüber sie redeten.
»Über Guidos neuesten Mord«, sagte ihr Mann, was so klang, als hätte Brunetti ihn begangen, statt ihn aufklären zu sollen. »Er wird sich bestimmt als Raubüberfall herausstellen. Wie nennt man das in Amerika? Mugging?« Erstaunlich, wie
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