Brunetti 04 - Vendetta
leeren Teller gesenkt, so daß er nicht sicher sein konnte.
Paola wandte sich an Brunetti. »Guido, würdest du bitte versuchen, deiner Tochter den Unterschied zu erklären?« Wie so oft ließ Paola in der Hitze des Gefechts, einem pflichtvergessenen Muttertier gleich, alle Fürsorge fahren und gab das junge Ding ganz dem Vater preis.
»Deine Mutter hat recht«, sagte er. »Wenn ich Leute ausfrage, wissen sie, daß ich Polizist bin, und geben mir ihre Informationen in Kenntnis dieser Tatsache. Und sie wissen, daß sie für das, was sie sagen, zur Rechenschaft gezogen werden können, was ihnen die Chance einräumt, sich zurückzuhalten, wenn sie wollen.«
»Und du legst nie einen herein?« wollte Chiara wissen. »Oder versuchst es wenigstens?« fügte sie hinzu, bevor er antworten konnte.
»Ich habe beides sicher schon getan«, räumte er ein. »Aber du darfst nicht vergessen, daß nichts, was jemand dir erzählt, rechtlich irgendein Gewicht hat. Er kann es immer hinterher leugnen, und dann steht nur dein Wort gegen seines.«
»Aber warum sollte ich lügen?«
»Warum sollte der andere lügen?« versetzte Brunetti.
»Wen interessiert denn, ob etwas, was Leute sagen, rechtlich bindend ist oder nicht?« mischte Paola sich jetzt wieder in die Debatte. »Wir sprechen hier nicht darüber, was rechtlich bindend ist, wir sprechen über Verrat. Und wenn das Wort an diesem Tisch erlaubt ist«, sagte sie, wobei sie beide abwechselnd ansah, »über Ehre.«
Auf Chiaras Gesicht erschien ein Ausdruck, der hieß: ›O je, jetzt kommt es wieder‹, und sie sah Brunetti an, von dem sie sich moralische Unterstützung erhoffte, doch er gab sie ihr nicht.
»Ehre?« fragte Chiara.
»Ja, Ehre«, sagte Paola, plötzlich ganz ruhig, aber darum nicht weniger bedrohlich. »Du kannst Freunden nicht einfach Informationen entlocken. Du kannst nicht etwas nehmen, was sie dir gesagt haben, und es gegen sie verwenden.«
Hier unterbrach Chiara sie. »Aber von dem, was Susanna mir gesagt hat, kann doch nichts gegen sie verwendet werden.«
Paola schloß einen Moment die Augen, dann nahm sie ein Stück Brot und begann es zu zerkrümeln, was sie oft tat, wenn sie aufgebracht war. »Chiara, es ist nicht entscheidend, ob irgend etwas, was sie dir erzählt hat, verwendet oder nicht verwendet wird. Es ist schlicht ein Unding«, fing sie an und wiederholte dann: »Es ist schlicht ein Unding, seine Freunde dazu zu verleiten, einem unter vier Augen etwas zu erzählen, und es dann weiterzusagen oder die Informationen in einer Weise zu benutzen, von der die anderen nicht ahnten, daß man sie im Hinterkopf hatte, als das Gespräch stattfand. Das ist Vertrauensbruch.«
»So, wie du das sagst, klingt es direkt strafbar«, sagte Chiara.
»Es ist schlimmer als strafbar«, erklärte Paola. »Es ist unrecht.«
»Und was strafbar ist, ist nicht unrecht?« mischte sich Brunetti von der Seitenlinie aus ein.
Sie nahm die Herausforderung an. »Guido, falls ich nicht geträumt habe, hatten wir vergangene Woche zwei Tage lang drei Installateure im Haus. Kannst du für ihre Arbeit eine ricevuta fiscale vorweisen? Kannst du nachweisen, daß sie das Geld versteuern, das wir ihnen bezahlt haben?« Als er nichts sagte, wiederholte sie: »Kannst du?« Und als er weiter schwieg, erklärte sie: »Das ist strafbar, Guido, strafbar, aber ich würde mich energisch gegen dich oder jeden aus dieser unserer stinkenden Regierung von Schweinen und Dieben zur Wehr setzen, der mir erzählen wollte, daß es unrecht ist.«
Er griff nach der Flasche, aber sie war leer.
»Willst du noch mehr?« fragte Paola, und er wußte, daß sie nicht den Wein meinte. Er war nicht scharf darauf, aber Paola stand jetzt auf dem Rednerpodest, und er wußte aus langer Erfahrung, daß es keinen Sinn hatte, sie herunterholen zu wollen, bevor sie fertig war. Er bedauerte nur, daß er den Wein schon ausgetrunken hatte.
Aus dem Augenwinkel sah er Chiara aufstehen und zum Schrank gehen. Kurz darauf war sie mit zwei kleinen Gläsern und einer Flasche Grappa zurück, die sie ihm leise über den Tisch zuschob. Ihre Mutter konnte sie nennen wie sie wollte - Verräterin, Spionin, Ungeheuer -, für ihn war das Kind ein Engel.
Er sah den langen Blick, den Paola ihrer Tochter zuwarf, und war froh, einen milden Ausdruck in ihren Augen zu entdecken, wenn auch nur kurz. Er goß sich einen kleinen Grappa ein, nippte daran und seufzte.
Paola griff über den Tisch und nahm die Flasche. Sie goß sich ebenfalls ein
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