Brunetti 04 - Vendetta
Pinetta. Kennen Sie die?«
Vianello blickte nachdenklich zur Decke, dann nickte er. »Ich glaube, ja, wenn es die ist, an die ich denke. Links vom Bahnhof?«
»Keine Ahnung«, antwortete Brunetti. »Ich weiß, daß sie nicht weit vom Bahnhof ist, aber ich habe nie davon gehört.«
»Ja, ich glaube, das ist sie. Pinetta?«
Brunetti nickte und wartete, was Vianello noch zu sagen hätte.
»Wenn es die ist, die ich meine, die ist ziemlich verrufen. Jede Menge Nordafrikaner, diese ›vucumprà‹, Typen, die man überall rumhängen sieht.« Vianello hielt einen Moment inne, und Brunetti bereitete sich darauf vor, irgendeine abfällige Bemerkung über diese illegalen Händler zu hören, die Venedigs Straßen bevölkerten und ihre imitierten Gucci-Taschen und afrikanischen Schnitzereien verkauften. Doch Vianello überraschte ihn, indem er sagte: »Arme Teufel.«
Brunetti hatte längst die Hoffnung aufgegeben, von seinen Mitbürgern einmal so etwas wie logisches politisches Denken zu hören, aber auf Vianellos Mitgefühl für diese eingewanderten Straßenhändler, meist die Verachtetsten unter den Hunderttausenden, die nach Italien strömten, um von den Krümeln satt zu werden, die unter die Tische der Reichen fielen, war er nicht gefaßt. Doch hier saß nun Vianello, ein Mann, der nicht nur die Lega Nord wählte, sondern sich auch energisch dafür stark machte, daß Italien nördlich von Rom zweigeteilt werden solle, wenn er besonders in Fahrt war, hatte man ihn schon nach einer Mauer rufen hören, um die Barbaren draußen zu halten, die Afrikaner, denn südlich von Rom begann für ihn Afrika -, dieser selbe Vianello also nannte nun diese Afrikaner ›arme Teufel‹ und meinte es anscheinend sogar ernst.
So erstaunt Brunetti über die Bemerkung war, wollte er doch jetzt keine Zeit vertun. Statt dessen fragte er: »Haben wir einen, der da mal abends hingehen kann?«
»Und was soll er machen?« fragte Vianello, ebenso froh wie Brunetti, das andere Thema meiden zu können.
»Einen trinken. Mit Leuten reden. Sehen, wer telefoniert. Oder angerufen wird.«
»Also einer, der nicht aussieht wie ein Polizist, meinen Sie?«
Brunetti nickte.
»Pucetti?« schlug Vianello vor.
Brunetti schüttelte den Kopf. »Zu jung.«
»Und wahrscheinlich zu sauber«, ergänzte Vianello sofort.
»Diese Pinetta-Bar scheint ja richtig nett zu sein.«
»Das ist so ein Schuppen, in dem ich lieber meine Waffe bei mir hätte«, meinte Vianello. Und nachdem er kurz überlegt hatte, fügte er etwas allzu beiläufig hinzu: »Scheint mir das Richtige für Topa zu sein«, denn das war der Name eines Sergente, der nach dreißig Jahren Polizeidienst vor einem halben Jahr in den Ruhestand gegangen war. Topa hieß eigentlich Romano, aber es hatte ihn niemand mehr so genannt, seit er vor über fünfzig Jahren ein kleiner, rundlicher Junge gewesen war, der genau so aussah wie das Mäuschen, dem er seinen Spitznamen verdankte. Auch als er erwachsen geworden war und eine so breite Brust bekommen hatte, daß seine Uniformjacken extra für ihn angefertigt werden mußten, war der Name ihm geblieben, völlig widersinnig, aber dennoch unveränderbar. Nie hatte sich jemand über Topa lustig gemacht, weil er einen Spitznamen mit weiblicher Endung hatte. Etliche Leute hatten ihm in seinen dreißig Jahren Dienstzeit zu schaden versucht, aber keiner hatte es gewagt, über seinen Spitznamen zu lachen.
Als Brunetti schwieg, sah Vianello einmal rasch zu ihm hoch und ebenso rasch wieder weg. »Ich weiß, wie Sie zu ihm stehen, Commissario.« Und ehe Brunetti noch Zeit fand, dazu etwas zu sagen: »Es wäre nicht einmal ein dienstlicher Einsatz, jedenfalls nicht offiziell. Er würde Ihnen nur einen Gefallen tun.«
»Indem er in die Pinetta-Bar geht?«
Vianello nickte.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Brunetti.
Vianello ließ sich nicht beirren. »Er wäre lediglich ein Rentner, der auf ein Gläschen in eine Bar geht, vielleicht auf eine Runde Karten.« Und da Brunetti weiter schwieg, fügte er hinzu: »Ein Polizist im Ruhestand kann doch in eine Bar gehen und Karten spielen, wenn er will, oder?«
»Das weiß ich eben nicht«, sagte Brunetti.
»Was?«
»Ob er das wollen würde.« Es war deutlich, daß keiner von ihnen gern über die Gründe für Topas frühzeitige Pensionierung sprechen wollte. Vor einem Jahr hatte Topa den dreiundzwanzigjährigen Sohn eines Stadtrats wegen Belästigung eines achtjährigen Mädchens festgenommen. Die Festnahme war nachts in der
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