Brunetti 04 - Vendetta
und trank einen Schluck. Der Haussegen hing wieder gerade.
»Chiara«, sagte Paola, »ich wollte dich deswegen nicht anschreien.«
»Hast du aber«, entgegnete ihre stets buchstabengetreue Tochter.
»Ich weiß, und es tut mir leid.« Paola nahm noch ein Schlückchen. »Du weißt, wie ernst mir diese Dinge sind.«
»Das hast du aus diesen Büchern, nicht?« fragte Chiara so unverblümt, daß man fast daraus schließen mußte, der Beruf ihrer Mutter als Professorin für englische Literatur habe einen verderblichen Einfluß auf ihre moralische Entwicklung ausgeübt.
Ihre Eltern suchten beide nach Sarkasmus oder Geringschätzung in Chiaras Ton, konnten aber nichts anderes entdecken als Wissensdurst.
»Ja, wahrscheinlich«, mußte Paola zugeben. »Sie verstanden etwas von Ehre, die Leute, die diese Bücher geschrieben haben, und sie bedeutete ihnen etwas.« Hier hielt sie inne und dachte über das soeben Gesagte nach. »Aber sie bedeutete nicht nur ihnen etwas, den Schriftstellern; für die Gesellschaft insgesamt waren manche Dinge wichtig: Ehre, der gute Name eines Menschen, sein Wort.«
»Ich finde diese Dinge auch wichtig, mamma«, sagte Chiara, und es klang viel kindlicher, als es ihrem Alter entsprach.
»Das weiß ich. Mir sind sie auch wichtig, und Raffi, und deinem Vater. Aber in unserer Welt sind sie es nicht, jedenfalls nicht mehr.«
»Liebst du darum diese Bücher so, mamma? «
Paola lächelte und stieg zu Brunettis Erleichterung jetzt endlich von ihrem Podest herunter, bevor sie antwortete: »Wahrscheinlich, cara. Außerdem verdanke ich der Kenntnis dieser Bücher meine Stelle an der Universität.«
Da Brunettis Pragmatismus sich schon seit mehr als zwei Jahrzehnten an den verschiedenen Formen von Paolas Idealismus rieb, fand er, daß sie ›diesen Büchern‹ weit mehr zu verdanken glaubte als nur einen Beruf.
»Hast du noch viel für die Schule zu tun, Chiara?« fragte Brunetti, der wußte, daß er auch später oder morgen früh noch von ihr erfahren konnte, was Francescas Freundin ihr erzählt hatte. Chiara verstand das zu Recht als Zeichen, daß sie entlassen war, bejahte die Frage und ging in ihr Zimmer, damit ihre Eltern weiterdebattieren konnten.
»Paola, ich wußte doch nicht, daß sie mein Angebot so ernst nehmen und gleich losgehen und Leute ausfragen würde«, sagte Brunetti. Es sollte eine Erklärung, oder zumindest teilweise auch eine Entschuldigung sein.
»Ich habe ja nichts dagegen, daß sie sich diese Informationen beschafft«, meinte Paola. »Aber wie sie es gemacht hat, das gefällt mir nicht.« Sie nippte wieder an ihrem Grappa. »Glaubst du, sie hat verstanden, was ich ihr klarzumachen versucht habe?«
»Ich glaube, sie versteht alles, was wir sagen«, antwortete Brunetti. »Ich bin nicht sicher, ob sie mit allzu vielem einverstanden ist, aber verstehen tut sie es bestimmt.« Dann fragte er, um noch einmal auf das vorher Gesagte zurückzukommen: »Was für Beispiele hast du denn sonst noch für Dinge, die strafbar, aber nicht unrecht sind?«
Sie rollte ihr kleines Glas zwischen den Handflächen. »Das finde ich zu leicht«, sagte sie, »besonders bei den verrückten Gesetzen in diesem Land. Viel schwerer ist es, das zu benennen, was unrecht, aber nicht strafbar ist.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, wenn du deine Kinder fernsehen läßt«, meinte sie lachend, des Themas offenbar überdrüssig.
»Nein, sag's mir, Paola«, drängte er, inzwischen neugierig geworden. »Ich würde gern ein Beispiel hören.«
Bevor sie antwortete, schnippte sie mit dem Fingernagel gegen die gläserne Mineralwasserflasche auf dem Tisch. »Ich weiß, daß du es nicht mehr hören kannst, Guido, aber ich finde, daß Plastikflaschen unrecht sind, dabei verstoßen sie bestimmt nicht gegen das Gesetz. Allerdings«, fügte sie rasch hinzu, »glaube ich, daß es in ein paar Jahren so sein wird. Das heißt, wenn wir vernünftig sind.«
»Ich hatte eigentlich ein etwas eindrucksvolleres Beispiel erwartet«, sagte Brunetti.
Sie dachte ein Weilchen nach und sagte dann: »Wenn wir die Kinder in dem Glauben erzogen hätten, der Reichtum meiner Familie gäbe ihnen besondere Vorrechte, das wäre unrecht.«
Es überraschte Brunetti, daß Paola gerade dieses Beispiel anführte; im Lauf der Jahre hatte sie nur selten den Reichtum ihrer Eltern angesprochen, höchstens wenn politische Diskussionen in Streit ausarteten und sie ihn dann als Beispiel für soziale Ungerechtigkeit anführte.
Sie tauschten einen
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