Brunetti 05 - Acqua alta
der Holzwurm beim Verlassen der Tischbeine nach dem Winterschlaf gefressen hatte.
Raffi zog sich nach dem Mittagessen mit der Behauptung in sein Zimmer zurück, er müsse noch zehn Seiten Homer für den morgigen Griechischunterricht übersetzen. Vor zwei Jahren, als er sich noch als Anarchisten sah, hatte er sich in sein Zimmer eingeschlossen, um finsteren Gedanken über den Kapitalismus nachzuhängen, vielleicht um damit dessen Niedergang zu beschleunigen. Doch inzwischen hatte er nicht nur eine Freundin, sondern offenbar auch den Wunsch, an einer Universität zugelassen zu werden.
Paola brachte Chiara unter Androhung fürchterlicher Strafen dazu, ihr beim Abwasch zu helfen, und während die beiden damit beschäftigt waren, streckte Brunetti den Kopf in die Küche und verabschiedete sich.
Als er aus dem Haus trat, fiel der schon angekündigte Regen zwar noch leicht, aber er versprach schlimmer zu werden. Brunetti spannte den Schirm auf und bog nach rechts in die Rughetta, um zurück zur Rialtobrücke zu gehen. Wenige Minuten später war er froh, daß er daran gedacht hatte, seine Stiefel anzuziehen, denn das Pflaster war von großen Pfützen bedeckt, die ihn in Versuchung führten, kräftig hineinzuplatschen. Als er auf der anderen Seite der Brücke war, regnete es schon viel heftiger, und bis er die Questura erreicht hatte, waren seine Hosenbeine oberhalb der schützenden Stiefel durchnäßt.
In seinem Zimmer zog er den Mantel aus und wünschte sich einen Augenblick, er könnte auch die Hose ausziehen und sie über die Heizung hängen; sie wäre in Minutenschnelle trocken. Statt dessen ließ er das Fenster so lange offen, bis die Temperatur im Raum erträglich geworden war, dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, rief die Zentrale an und ließ sich mit dem Sonderdezernat für Kunstdiebstahl im Polizeipräsidium von Rom verbinden. Nachdem er durchgestellt war, meldete er sich und verlangte Maggiore Carrara.
»Buon giorno, commissario.«
»Glückwunsch, Maggiore.«
»Danke, es wurde auch höchste Zeit dafür.«
»Sie sind doch noch jung. Sie haben noch viel Zeit, um generale zu werden.«
»Bis ich generale bin, hängt in den Museen des Landes kein einziges Bild mehr«, versetzte Carrara. Sein Lachen kam so verzögert, daß Brunetti sich nicht sicher war, ob die Bemerkung scherzhaft gemeint war oder nicht.
»Das ist der Grund für meinen Anruf, Giulio.«
»Was? Bilder?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Auf jeden Fall Museen.«
»Ach ja? Worum geht es denn?« fragte er mit dem wachen dienstlichen Interesse, das Brunetti schon an ihm kannte.
»Wir hatten hier einen Mord.«
»Ja, ich weiß, Semenzato, im Palazzo Ducale.« Seine Stimme klang neutral.
»Wissen Sie etwas über ihn, Giulio?«
»Offiziell oder inoffiziell?«
»Offiziell.«
»Absolut nichts. Nein. Nicht das mindeste.«
Brunetti grinste ins Telefon. »Also gut. Und inoffiziell?«
»Wie seltsam, daß Sie das fragen. Ich habe nämlich schon einen Zettel auf dem Schreibtisch liegen, daß ich Sie anrufen wollte. Daß Sie an dem Fall arbeiten, habe ich erst heute morgen aus der Zeitung erfahren. Da dachte ich mir, ich sollte Sie mal anrufen und Ihnen einiges erzählen. Und Sie auch um den einen oder anderen Gefallen bitten. Es könnte sein, daß wir da gemeinsame Interessen haben.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel seine Bankkonten.«
»Semenzatos?«
»Sprechen wir denn nicht von ihm?«
»Entschuldigen Sie, Giulio, aber ich muß mir schon den ganzen Tag anhören, daß man nicht schlecht von den Toten reden soll.«
»Wenn man von den Toten nicht schlecht reden kann, von wem denn sonst?« fragte Carrara mit überraschender Logik.
»Ich habe schon jemanden drangesetzt. Wahrscheinlich bekomme ich die Auszüge morgen. Noch etwas?«
»Ich würde gern mal eine Aufstellung der Ferngespräche sehen, die von seinem Privatanschluß und seinem Büro im Museum aus geführt wurden. Kommen Sie da dran?«
»Ist das immer noch inoffiziell?«
»Ja.«
»Ich komme dran.«
»Gut.«
»Was noch?«
»Haben Sie schon mit der Witwe gesprochen?«
»Nein. Nicht persönlich. Einer meiner Leute hat mit ihr gesprochen. Warum?«
»Sie weiß vielleicht, wo er in den letzten Monaten herumgereist ist.«
»Warum wollen Sie das denn wissen?« Brunetti war jetzt richtig neugierig.
»Aus keinem bestimmten Grund, Guido. Aber wir wissen so etwas gern, wenn uns ein Name öfter als einmal untergekommen ist.«
»Und das ist er?«
»Ja.«
»In welchem
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