Brunetti 07 - Nobiltà
eine Handvoll Holzstäbchen, ungefähr so lang wie Spaghetti, auf den Tisch fallen und mußte dann so viele wie möglich A aus dem Gewirr herausklauben, ohne dass sich eines von den anderen bewegte. Dabei musste man sehr behutsam vorgehen; eine falsche Bewegung, und alles kullerte durcheinander.
»Meinen Sie nicht, Mariani könnte das machen?« schlug Brunetti einen der beiden anderen Commissario vor. »Er ist gerade aus dem Urlaub zurück.«
»Nein, ich finde, Sie sollten das übernehmen. Schließlich kennt Ihre Frau ja diese Sorte Leute, nicht wahr?«
›Diese Sorte Leute‹ war eine Formulierung, die Brunetti jahrelang nur im abwertenden Sinne gehört hatte, meist in einem rassistischen, und hier sprang sie nun dem Vice-Questore aber die Lippen wie ein Lobgesang. Brunetti nickte unverbindlich; er war nicht sicher, welche ›Sorte Leute‹ seine Frau kannte und was sie möglicherweise über sie wusste.
»Gut, dann könnten Ihnen ja hier Ihre Familienbeziehungen zugute kommen«, sagte Patta, was wohl heißen sollte, dass die Macht des Staates oder die Befugnisse der Polizei im Zusammenhang mit dieser Sorte Leute nicht viel zählten.
Und wenn Brunetti es recht bedachte, mochte das sogar stimmen.
Er überwand sich zu einem sehr widerstrebenden »Hm« und gab dann nach, wobei er alles, was nach Begeisterung klingen konnte, aus seiner Stimme heraushielt. »Wenn Sie es wollen, Vice-Questore, dann rede ich wegen Marghera mit Pucetti.«
»Halten Sie aber mich oder Tenente Scarpa über Ihr Tun auf dem laufenden, Brunetti«, fügte Patta wie abwesend hinzu.
»Selbstverständlich«, sagte Brunetti, ein Versprechen, so leer wie schon lange nicht mehr. Als er sah, dass sein Vorgesetzter ihm offenbar nichts weiter zu sagen hatte, stand er auf und ging.
Kaum hatte er die Tür von Pattas Zimmer hinter sich zugemacht, fragte Signorina Elettra: »Haben Sie ihn überzeugt, dass er Ihnen den Fall geben muß?«
»Überzeugt?« wiederholte Brunetti! erstaunt. Wie konnte Signorina Elettra nach so langer Zeit mit Patta noch immer glauben, dass ihr Vorgesetzter für Argumente zugänglich sei?
»Natürlich, indem Sie ihm gesagt haben, wie sehr Sie mit anderen Dingen beschäftigt sind«, erklärte sie, während sie eine Tastenkombination auf ihrem Computer drückte und damit ihren Drucker zum Leben erweckte.
Brunetti konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich dachte schon, ich müsste mich mit körperlicher Gewalt dagegen wehren«, sagte er.
»Sie scheinen an dem Fall ja sehr interessiert zu sein, Commissario.«
»Das bin ich.«
»Dann wird Sie das hier vielleicht interessieren«, sagte sie, indem sie ein paar Blätter aus dem Drucker nahm und ihm reichte.
»Was ist das?«
»Eine Zusammenfassung aller Vorgänge, bei denen wir auf den Namen Lorenzoni gestoßen sind.«
»Wir?«
»Die Ordnungskräfte.«
»Und wer sind die?«
»Wir, die Carabinieri, Zoll- und Steuerfahndung.«
Brunetti machte ein erstauntes Gesicht. »Kein Draht zum Geheimdienst, Signorina?«
Ihre Miene verriet nichts. »Den nehme ich nur in Anspruch, wenn es wirklich nötig ist, Commissario. Ich möchte den Kontakt nicht übermäßig strapazieren.«
Brunetti suchte in ihren Augen nach Hinweisen darauf, ob sie vielleicht scherzte. Er wusste nicht was ihn mehr beunruhigen würde: die Feststellung, dass sie die Wahrheit sprach, oder dass er den Unterschied nicht merkte.
Da ihre Miene weiterhin nichts verriet, ließ er diese Frage lieber auf sich beruhen und sah sich die Liste an. Der erste Eintrag war vom Oktober vor drei Jahren: Roberto wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen. Geringes Bußgeld, Verfahren eingestellt.
Bevor er weiterlesen konnte, unterbrach sie ihn. »Ich habe nichts in die Liste aufgenommen, was mit der Entführung zu tun hat, Commissario. Dafür habe ich eine eigene Aufstellung gemacht. Ich fand das weniger verwirrend.«
Brunetti nickte. Auf dem Weg nach oben las er die Liste durch. Weihnachten desselben Jahres - genauer gesagt am ersten Weihnachtstag - war ein Laster der Spedition Lorenzoni auf der Autobahn bei Salerno entführt worden. Die Ladung - Laboreinrichtungen aus Deutschland im Wert von einer Viertelmilliarde Lire - war nie wieder aufgetaucht.
Vier Monate später wurde bei der zufälligen Zollkontrolle eines Lorenzoni-Transporters festgestellt, dass auf den Begleitpapieren nur halb so viele ungarische Ferngläser standen, wie sich in dem Wagen fanden. Die festgesetzte Geldstrafe war umgehend bezahlt worden. Es folgte
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