Brunetti 07 - Nobiltà
Ziemlich unvermittelt wechselte er das Thema. »Was tut sich denn in der Denkfabrik?« fragte er.
Sie machte sich von ihm los, nahm das Besteck von der Spüle und begann es abzutrocknen. »Das Niveau entspricht etwa dem heutigen Abendessen«, antwortete sie schließlich. Stück für Stück ließ sie die Messer und Gabeln in eine Schublade fallen. »Unser Fachbereichsleiter verlangt, dass wir uns mehr mit Kolonialliteratur befassen.«
»Was ist denn das?« fragte Brunetti.
»Da fragst du zu Recht« antwortete sie, während sie einen Vorlegelöffel abtrocknete. »Leute aus Kulturen, in denen Englisch nicht die Muttersprache ist, die aber Englisch schreiben.«
»Und was ist daran so schlimm?«
»Einige von uns sollen das Zeug nächstes Jahr lehren.«
»Du auch?«
»Ja«, sagte sie, dabei warf sie den letzten Löffel in die Schublade und knallte sie zu.
»Und wie soll dein Kind heißen?«
»Die Stimme der karibischen Frauen.«
»Weil du eine Frau bist?«
»Jedenfalls nicht, weil ich aus der Karibik bin«, antwortete sie.
»Und?«
»Ich habe mich geweigert.«
»Warum?«
»Weil mich das Thema nicht interessiert. Weil ich es widerwillig und darum schlecht machen würde.«
Brunetti ahnte, dass dies eine Ausflucht war, und wartete, dass sie es zugab. »Und weil ich mir von ihm nicht vorschreiben lassen will, was ich lehre.«
»War das der Grund für deinen Kummer?« fragte er so beiläufig wie möglich.
Obwohl sie ihn scharf dabei ansah, klang ihre Antwort so beiläufig wie seine Frage. »Ich wusste nicht, dass ich Kummer hatte.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber da flog die Wohnungstür auf, die Kinder kamen mit dem Eis zurück, und Brunettis Frage blieb unbeantwortet.
In der Nacht wachte Brunetti tatsächlich zweimal auf, und jedes Mal trank er zwei Gläser Mineralwasser. Das zweite Mal war kurz nach Tagesanbruch, und nachdem er sein Glas auf dem Fußboden abgestellt hatte, lag er auf den Ellbogen gestützt und betrachtete Paolas Gesicht. Eine Haarsträhne ringelte sich um ihr Kinn und zitterte leise unter ihrem Atem. Mit geschlossenen Augen und ohne Mienenspiel zeigte das Gesicht nur Kontur und Charakter.
Fremd und für ihn undurchschaubar lag sie neben ihm, und er suchte in ihrem Gesicht nach irgend etwas, das ihm helfen würde, sie besser zu begreifen.
Er wünschte sich plötzlich mit aller Macht, dass Conte Orazio unrecht habe und sie glücklich und mit ihrem Leben an seiner Seite zufrieden sei. Wie ihm zum Hohn schlugen die Glocken von San Polo sechsmal, und die Spatzen, die sich zwischen den losen Backsteinen des Schornsteins ein Nest gebaut hatten, begrüßten den neuen Tag und riefen zur Arbeit.
Brunetti überhörte sie geflissentlich und legte den Kopf wieder aufs Kissen.
Er schloss die Augen in der Überzeugung; dass er sowieso nicht wieder einschlafen würde, sollte aber bald feststellen, wie leicht es war, den Ruf zur Arbeit zu überhören.
14
An diesem Morgen hielt Brunetti es für angezeigt, seine spärlichen Informationen über den Mordfall Lorenzoni - inzwischen konnte man ihn ja so nennen - an Patta weiterzugeben, und das tat er, kaum dass dieser in der Questura eingetroffen war. Brunetti fürchtete Nachwirkungen seines gestrigen Verhaltens gegenüber Patta, aber es gab keine, zumindest nicht offen. Patta hatte die Zeitungsberichte gelesen und äußerte gebetsmühlenhaft seine Bestürzung, die vor allem der Tatsache zu gelten schien, dass ein Adelshaus betroffen war.
Brunetti erklärte, er habe zufällig den Anruf entgegengenommen, in dem die Übereinstimmung der Gebissaufnahmen bestätigt worden sei, und es daraufhin gleich übernommen, die Eltern zu verständigen.
Aus langer Erfahrung hütete er sich, Interesse an dem Fall zu zeigen, und fragte beiläufig, wem der ViceQuestore den Fall zu übergeben gedenke. Er ging sogar soweit, einen Kollegen vorzuschlagen.
»Woran sind Sie denn gerade, Brunetti?«
»An der illegalen Müllablagerung in Marghera«, antwortete Brunetti prompt und in einem Ton, als ob Umweltvergiftung wichtiger wäre als Mord.
»Ach ja«, sagte Patta; er hatte von Marghera gehört. »Nun, ich denke, das können wir den uniformierten Kollegen überlassen.«
»Aber ich muß noch den Hafenmeister vernehmen«, beharrte Brunetti. »Und jemand muß sich, die Frachtpapiere dieses Tankers aus Panama ansehen.« »Das soll Pucetti machen«, meinte Patta wegwerfend.
Brunetti fiel ein Spiel ein, das er früher gern mit seinen Kindern gespielt hatte. Man ließ
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