Brunetti 07 - Nobiltà
geordnet, doch Brunetti versuchte ein System hineinzubringen, indem er sie stapelweise nach ihrer ungefähren geographischen Lage in Europa auf seinen Schreibtisch legte.
Speditionen, Stahl, Kunststoff-Fabriken auf der Krim: Er konnte eine explosionsartige Ausbreitung auf neue Märkte im Osten rekonstruieren, bei der immer mehr von Lorenzonis Unternehmungen über die Linie wanderten, die früher einmal ein eiserner Vorhang gewesen war. Im März hatten zwei Bekleidungsfabriken in Vercelli geschlossen, nur um zwei Monate danach in Kiew wieder aufzumachen. Eine halbe Stunde später legte Brunetti das letzte Blatt auf seinen Schreibtisch und sah, dass fast alles auf der rechten Seite lag, auch wenn er viele der genannten Orte nur sehr ungefähr einordnen konnte.
Brunetti brauchte nicht lange, um sich an die neuerdings in der Presse verbreiteten Geschichten über die sogenannte Russenmafia zu erinnern, an die Tschetschenenbanden, die nach diesen Berichten fast die ganze Wirtschaft in Rußland beherrschten, die legale wie die illegale.
Von da war es nur ein kleiner Schritt zu der Vermutung, dass diese Leute irgendwie mit der Entführung zu tun haben könnten. Robertos Entführer hatten ja nichts weiter gesagt, ihm nur ihre Waffen unter die Nase gehalten und ihn weggeführt.
Aber wie wären sie dann auf diesen Acker bei Col di Cugnan gekommen, einem so kleinen Ort, dass selbst die meisten Venezianer den Namen wahrscheinlich noch nie gehört hatten? Er nahm die Entführungsakte zur Hand und blätterte darin, bis er die Lösegeldforderungen in ihren Plastikhüllen fand. Die Blockbuchstaben hätte zwar jeder schreiben können, aber das Italienisch war völlig korrekt, wobei Brunetti sich allerdings sagen musste, dass damit noch nichts bewiesen war.
Er wusste nicht, wie ein typisch russisches Verbrechen aussah, aber sein Instinkt sagte ihm, dass es sich hier nicht um ein solches handelte. Wer Roberto entführt hatte, musste über die Villa Bescheid gewusst haben und dass man dort unentdeckt warten konnte, bis das Opfer auftauchte. Es sei denn, fügte Brunetti für sich hinzu, es sei denn, sie wussten schon, wann Roberto kommen würde.
Das war ja auch eine dieser Fragen, die bei der ursprünglichen Ermittlung nicht gestellt worden waren. Wer hatte Robertos Pläne für den Abend gekannt und von seiner Absicht gewusst, zur Villa zu fahren?
Wie so oft machte es Brunetti kribbelig, Berichte zu lesen, die andere Leute verfaßt hatten, zumal, wenn sie mit der Sache gar nicht mehr befasst waren.
Nicht ohne ein gewisses Unbehagen ob der Leichtigkeit, mit der er seinem Gefühl nachgab, griff Brunetti zum Hörer und wählte Vianellos Nummer. Als der Sergente sich meldete, sagte Brunetti: »Wir wollen uns mal das Tor ansehen.«
17
Obwohl Brunetti ein ausgesprochener Städter war und nie woanders gelebt hatte als in der Stadt, nahm er mit der Begeisterung des Landmanns den Reichtum der Natur und jedes Zeichen ihrer Schönheit wahr. Seit seiner Kindheit liebte er den Frühling am meisten, mit einer Inbrunst, die sich aus der Erinnerung an seine Freude über die ersten warmen Tage nach langer winterlicher Kälte speiste. Außerdem entzückte ihn die Rückkehr der Farben: das provozierende Gelb der Forsythien, das Lila der Krokusse und das fröhliche Grün der neuen Blätter. Sogar aus dem Rückfenster des Autos, das auf der auto-strada nach Norden fuhr, konnte er diese Farben sehen und darin schwelgen. Vianello, der vorn auf dem Beifahrersitz neben Pucetti saß, unterhielt sich mit diesem über den merkwürdig milden Winter, viel zu warm für den Frost, der sonst immer den Seetang in der Lagune zerstörte, was wiederum hieß, dass die Strande diesen Sommer voll davon sein würden.
In Treviso bogen sie auf die Schnellstraße Richtung Roncade ab. Nach ein paar Kilometern sahen sie rechts einen Wegweiser zur Kirche Sant' Ubaldo.
»Hier muss es irgendwo sein«, sagte Pucetti, der sich vor ihrer Abfahrt vom Piazzale Roma die Karte angesehen hatte.
»Ja«, antwortete Vianello, »nach etwa drei Kilometern, dann musste es auf der linken Seite liegen.«
»Ich war noch nie in dieser Gegend«, sagte Pucetti. »Hübsch hier.«
Vianello nickte, sagte aber nichts.
Wenige Minuten später brachte eine Biegung der schmalen Straße sie in Sichtweite eines dicken steinernen Turms zu ihrer Linken.
Von zwei Seiten des Turms führte im rechten Winkel je eine hohe Mauer weg, die sich bald zwischen den knospenden Bäumen verlor.
Brunetti tippte
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