Brunetti 14 - Blutige Steine
Großhändler, die die Taschen vertrieben, brauchten wohl kaum ein so drastisches Exempel wie einen Mord zu statuieren, um ihre Belegschaft bei der Stange zu halten. Die Afrikaner waren gewiß viel zu dankbar für jedwede Verdienstmöglichkeit, als daß sie ihren Job aufs Spiel gesetzt hätten, indem sie ihre Arbeitgeber betrogen. Jenseits dieser Überlegungen ergaben sich immerhin noch endlos viele Fragen, denen es nachzugehen galt.
Brunetti griff nach einer Kopie des aktuellen Dienstplans und listete auf der unbeschriebenen Rückseite alle Dinge auf, die er über den Toten in Erfahrung bringen mußte: »Name, Nationalität, Beruf, eventuelles Strafregister, seit wann in Italien, hiesige Adresse, Familie, Freunde.« Als er die Liste durchging und überlegte, wo er ansetzen sollte, um die geheimnisvolle Existenz des Toten zu ergründen, fiel ihm plötzlich jemand ein, der ihm dabei helfen konnte. Er griff zum Telefon und rief unten im Dienstzimmer an.
Wie er gehofft hatte, meldete sich Vianello.
»Haben Sie Zeit?« fragte Brunetti.
»Ja, Commissario.«
»Dann in zwei Minuten«, entschied Brunetti. »Ach, und wir brauchen ein Boot.«
Doch es dauerte länger als zwei Minuten, bis er seinen Mantel angezogen und in den Taschen einer im Schrank hängengebliebenen Daunenweste ein Paar Ersatzhandschuhe gefunden hatte. Erleichtert steckte er sie ein und ging hinunter in die Eingangshalle.
Vianello wartete schon am Portal. Er trug so viele Lagen Pullover und Westen unter dem Mantel, daß sein Umfang sich schier verdoppelt hatte. »Also wir wollen nicht nach Wladiwostok, mein Lieber«, begrüßte ihn Brunetti.
»Nadia hat die Grippe, die Kinder sind erkältet, da will ich nicht auch noch krank werden und daheim bleiben müssen.«
»Ach, und wer kümmert sich um Ihre Familie?«
»Nadias Mutter. Sie wohnt ja praktisch um die Ecke, und zur Zeit geht sie ständig bei uns ein und aus.« Vianello winkte den diensthabenden Beamten beiseite und öffnete selbst die Eingangstür. Ein kalter Luftstrom blies ihnen entgegen und fegte durch die Halle. Der Ispettore vergrub die behandschuhten Hände in den Taschen seines Parkas und trat ins Freie.
Der Bootsmann stand an Deck, die pelzverbrämte Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, daß nur ein kleines Dreieck von Augen und Nase sichtbar war. »Bringen Sie uns nach San Zan Degolà«, wies ihn Brunetti an, bevor er eilig hinunter in die Kabine verschwand.
Vianello folgte ihm und ließ die Pendeltür hinter sich zuschlagen. In der Kabine war es kalt, aber zumindest bot sie Schutz vor dem Wind, der ohnmächtig an den Türen rüttelte. Als er Brunetti gegenüber Platz genommen hatte, fragte Vianello: »Zu wem wollen Sie denn da drüben, Commissario?«
»Don Alvise.«
Kaum daß der Name des ehemaligen Priesters fiel, war Vianello im Bilde. Alvise Perale hatte viele Jahre lang als Gemeindepfarrer in Oderzo, einem verschlafenen Städtchen nördlich von Venedig gewirkt und während dieser Zeit seine beachtliche Energie nicht nur für das geistliche Wohl seiner Gemeinde eingesetzt, sondern sich auch um das leibliche Wohl all derjenigen gekümmert, die durch Kriege, Revolutionen oder drückende Armut aus ihrer Heimat vertrieben worden und an den Ufern der Livenza gestrandet waren: albanische Prostituierte, bosnische Mechaniker, rumänische Zigeuner, kurdische Schäfer und afrikanische Kleinhändler. Für Don Alvise waren sie alle, ungeachtet ihrer Religion, Kinder des Gottes, dem er diente, und somit seiner Obhut und Fürsorge anempfohlen.
Seine Gemeinde verfolgte die Wohltätigkeitsarbeit ihres Pfarrers mit gemischten Gefühlen: Einige billigten sein Bestreben, den Reichtum der Kirche mit diesen Ärmsten der Armen zu teilen, andere aber zogen es vor, einem weniger freigebigen Gott zu huldigen, und beschwerten sich endlich sogar bei ihrem Bischof, als nämlich Don Alvise eine Familie aus Sierra Leone bei sich im Pfarrhaus aufnahm.
Der Bischof befahl Don Alvise daraufhin schriftlich, die Familie wieder auszuquartieren, und er begründete seine Weisung damit, daß diese Leute zum Teil noch Götzendienst trieben, ja »von manchen heißt es, sie beten sogar Steine an«.
Nach Erhalt dieses Schreibens ging Don Alvise schnurstracks zur Bank und hob den Großteil der Einlagen vom Gemeindekonto ab. Zwei Tage später und noch bevor er den Brief des Bischofs beantwortet hatte, kaufte er mit diesem Geld im benachbarten Portogruaro eine kleine Wohnung, die er auf den Namen des Familienvaters aus
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