Brunetti 14 - Blutige Steine
sie Paola beim Auftragen zur Hand und servierte eilfertig die Platte mit den Lammkoteletts, eine große Schüssel Reis und gegrillten Radicchio.
»Wie kommt es, daß deine Mutter Englisch spricht?« fragte Paola.
»Sie hat an der Universität in Isfahan unterrichtet«, antwortete Azir. »Bis wir fort sind.«
Obwohl die Frage in der Luft hing, erkundigte sich niemand, warum ihre Familie sich zur Ausreise entschlossen hatte oder ob sie überhaupt aus freien Stücken fortgegangen waren.
Von der Pasta hatte Azir nur sehr wenig gegessen, aber Lamm und Reis sprach sie so herzhaft zu, daß selbst Chiara kaum mithalten konnte. Staunend verfolgte Brunetti, wie die gebogenen Knöchelchen sich auf dem Tellerrand der Mädchen türmten und Berge von Reis sich scheinbar in Luft auflösten, sobald sie mit den Gabeln der Mädchen in Berührung kamen.
Als Paola nach einer Weile Fleischplatte und Schüssel vom Tisch nahm und beide am Herd wieder auffüllte, bewunderte Brunetti die Weitsicht, mit der sie für diesen jugendlichen Heuschreckeneinfall vorgesorgt hatte. Nach dem Eingeständnis, daß sie noch nie Radicchio gegessen habe, ja nicht einmal wisse, was das sei, ließ Azir sich von Paola eine große Portion auftun, die, sobald niemand hinsah, im Nu verschwand.
Als alle glaubhaft beteuerten, wirklich keinen Bissen mehr hinunterzukriegen, deckten Paola und Azir den Tisch ab, und Paola reichte dem Mädchen kleine Teller und Dessertschälchen zum Verteilen. Dann holte sie eine große Schüssel Obstsalat aus dem Kühlschrank.
Ihre Frage, wer macedonia wolle, beantwortete Azir mit der Gegenfrage: »Woher kommt denn dieser seltsame Name, Dottoressa?«
»Ich glaube, von Mazedonien, einem Staat mit lauter kleinen Volksgruppen, die im Laufe der Geschichte immer wieder aufgespalten und voneinander getrennt wurden. Verbürgen kann ich mich dafür allerdings nicht.« Und wie in solchen Fällen üblich, beschloß Paola, der Sache auf den Grund zu gehen. »Hol doch mal den Zanichelli, Chiara«, bat sie, denn das Lexikon befand sich mittlerweile im Zimmer der Tochter.
Als Chiara kurz darauf mit dem schweren Wälzer zurückkam und ihn aufschlug, murmelte sie emsig blätternd vor sich hin: »Macchia, macchiare, macedone«, bis sie endlich den richtigen Eintrag gefunden hatte, der Paolas Vermutung bestätigte und den sie laut vortrug. Danach las sie still für sich weiter. Mechanisch vertauschte sie ihr achtlos beiseite geschobenes Gedeck mit dem aufgeschlagenen Buch, und als ob ihre Tischgenossen mit dem Reis von vorhin verschwunden wären, vertiefte sie sich selbstvergessen in die übrigen Einträge auf der Seite.
Azir löffelte ihren Obstsalat, schlug eine zweite Portion dankend aus und erhob sich mit den Worten: »Darf ich Ihnen beim Abwasch helfen, Signora?«
Während Brunetti seinen Stuhl zurückschob und ins Wohnzimmer ging, kam ihm der Gedanke, er habe sich vielleicht all die Jahre in Chiara getäuscht, und Azir sei tatsächlich die wundervollste Tochter von der Welt.
Als Paola sich eine halbe Stunde später zu ihm gesellte, fragte er: »Willst du es ansprechen, oder soll ich?«
»Was? Wieso sie abfällig ›bloß ein vucumprà ‹ sagen und sich gleichzeitig darum sorgen kann, daß man ihrer muslimischen Freundin kein Schweinefleisch vorsetzt?« Paola legte ein Buch und ihre Brille auf den Sofatisch.
Auch wenn Brunetti es vielleicht nicht ganz so ausgedrückt hätte, nickte er.
»Ich bitte dich, Guido, sie ist noch in der Pubertät.«
»Und was bedeutet das?«
Geistesabwesend zog Paola ein Kissen hinter dem Rücken hervor, warf es auf den Tisch und legte, nachdem sie die Schuhe abgestreift hatte, die Füße hoch. »Es bedeutet, die derzeit einzige Konstante in ihrem Leben ist ihre Inkonsequenz. Wenn eine Haltung oder Ansicht von der Mehrheit vertreten wird, neigt sie dazu, sich anzuschließen; falls genügend Leute dagegen sind, wird sie sich's wahrscheinlich noch einmal überlegen und vielleicht ihre Meinung ändern. Und bei all dem pubertären Wirrwarr, der einem in ihrem Alter im Kopf herumgeht, fällt es ihr schwer, längerfristig klar zu denken, ohne ängstlich auf das Urteil ihrer Freunde über das, was sie sagt und tut, zu schielen. Oder darüber«, fuhr Paola nach einer kurzen Pause fort, »wie sie sich kleidet, was sie ißt und trinkt, über ihren Geschmack, die Musik, die sie hört, und die Filme, die ihr gefallen.«
»Aber merkt sie denn gar nicht, wie widersprüchlich das ist?« fragte er hartnäckig
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