Brunetti 14 - Blutige Steine
Frage?«
Diesmal dauerte die Pause so lange, daß es schon beinahe peinlich wurde. Endlich sagte Claudio: »Der einzige, der mir einfällt, ist Guelfi. Er hat einen Laden an der Salizzada San Lio, aber es wäre zwecklos, ihn zu befragen. Er würde dir nichts erzählen, egal, ob er die Steine gekauft hat oder nicht.«
»Gibt's dafür einen Grund?« erkundigte sich Brunetti, während er den Stadtplan in seinem Kopf nach einem Juwelierladen beim San Lio absuchte.
»Nein«, antwortete Claudio. »Guelfi gibt prinzipiell nichts her, nicht einmal Informationen. Glaub mir, mit ihm zu reden wäre reine Zeitverschwendung.«
»Ich werd's beherzigen«, versprach Brunetti. »Und sonst fällt Ihnen niemand ein?«
»Nein, zumindest nicht hier in Venedig. Meine Freunde und ich, wir sind die einzigen in der Stadt, die Ankäufe in dieser Größenordnung tätigen würden. Und in unserem Kreis ist man nur an den Kollegen herangetreten, von dem ich dir erzählt habe. Da bin ich mir sicher.«
»Absolut sicher oder so gut wie?« forschte Brunetti.
»Absolut«, antwortete Claudio. »Verlaß dich drauf.« Und damit hängte er ein.
Angola - war das der Staat, in dem die Putschisten die alte Regierung an den Strand verschleppt und dort abgeschlachtet hatten? Oder der, wo die alte Regierung einfach vom Erdboden verschwunden war? Als Brunetti beim Zeitunglesen einmal auf den Begriff »Compassion Fatigue« gestoßen war, hatte er das für einen Irrtum voreiliger Journalisten gehalten und geglaubt, es müsse eigentlich »Horror Fatigue« heißen. Bis eine Freundin in Rom, Kamerafrau bei der RAI , die während ihrer Laufbahn die meisten Krisengebiete des Erdballs kennengelernt hatte, vor ein paar Jahren - sie war gerade aus Ruanda zurückgekehrt - ihre Kündigung einreichte, die aus dem einzigen Satz bestand: »Ich kann keine Leichenberge mehr filmen.«
Brunetti und Paola waren beide politisch interessiert und versuchten sich auf dem laufenden zu halten, aber wenn die Katastrophen so dicht aufeinanderfolgten wie auf dem leidgeprüften schwarzen Kontinent, dann verloren auch sie den Überblick. Ein Erdteil, so reich an Bodenschätzen, daß den westlichen Industrienationen der Mund wäßrig wurde - und an jeder Ecke Schurken, die danach gierten, sie zu Geld zu machen. Vielleicht hatte Joseph Conrad ja recht, oder vielmehr sein Mr. Kurtz, und am Ende blieb wirklich nur »das Grauen«.
Falls es dem Afrikaner doch noch gelungen war, die Diamanten zu veräußern, was hatte er wohl mit dem Geld gemacht? Falls es sich um Diebesgut handelte, hätte er den Erlös vermutlich für sich verwendet, doch Diebstahl kam schwerlich in Betracht - nicht in einem Stück, wo man in den Kulissen schon die Ministerien des Inneren und des Äußeren mit den Hufen scharren hörte. Das Innenministerium, dem es oblag, die Einwanderungsflut zu kontrollieren, interessierte sich zwar mit Fug und Recht für den toten vucumprà, aber warum rissen sie sämtliche Ermittlungen im Fall dieses einen Ausländermordes an sich? Noch dazu ohne jede Erklärung?
Für die Intervention des Außenministeriums konnte es viele Gründe geben: Überwachung eines überführten oder verdächtigen Kriminellen oder besser noch - weil sich damit viel leichter ein Haftbefehl erwirken ließ - die Observation eines erwiesenen oder auch nur mutmaßlichen Terroristen. Oder: ja, auch diese Möglichkeit mußte Brunetti in Betracht ziehen - oder sie beschatteten den Mann auf Wunsch derer, die ihn gefoltert hatten, weil es politisch opportun war, diesen Leuten einen Gefallen zu tun.
Als er seinerzeit in den Polizeidienst eingetreten war, wäre Brunetti nie auf solche Gedanken gekommen, ungeachtet aller ketzerischen Parolen der Linken oder der politischen Gesinnung seiner Braut. Heute, da er sich seit Jahrzehnten auf Tuchfühlung mit den Ordnungskräften und ihren Vollzugsorganen befand, mußte Brunetti einsehen, daß keine, nicht einmal die schändlichste oder unglaublichste Möglichkeit auszuschließen war.
Er saß an seinem Schreibtisch, den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, und suchte nach weiteren Gründen dafür, warum die Ministerien in Rom ein Interesse daran haben könnten, die Aufklärung des Mordes an einem Ausländer zu behindern. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, einem der beiden Ministerien könne einfach an der Ergreifung des Täters gelegen sein. Dann nämlich hätten sie den Fall der Polizei überlassen.
Wieso hatten sie die Diamanten nicht gefunden? Warum
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